Mittwoch, 23. November 2016

Ihr Kinderlein kommet - mir nicht zu nah

Halten Sie mich nicht für einen Menschenfeind. Ich buche meinen Urlaub wirklich nicht in den Misantropen. 
Ich bin Stadtmensch. Das luftige Leben auf dem Lande, in einem Holzhäuschen mit Reetdach hat so viel Schöner-Wohnen-Romantik, dass ich kaum zu atmen wage, geschweige denn mich auch nur in Gedanken traue, ohne farblich abgestimmten Untersetzer, ein Glas auf dem Wohnzimmertisch abzustellen. 
Jedoch und das gebe ich ungern, aber unumwunden zu, gibt es eine Zeit im Jahr zu der ich mich aus dem Jahrmarkt-heiteren Trubel der kapitalistischen Großstädte fort sehne. 
Gerade reckt sich mein vorwitziger Zeigefinger in den Himmel, nach Hause telefonieren, und zeitgleich suchen meine Augen denselben nach fremden Galaxien, links hinter der Milchstraße oder am Ende des Universums ab, wo es bestimmt ein tolles Restaurant gibt, ein ruhiges vielleicht ebenfalls.
Stattdessen aber sehe ich nichts weiter als ein in orange-rosé getünchtes Himmelszelt, was angeblich ein Zeichen dafür sein soll, dass irgendwo Engel Kekse backen.

Haben Sie mal versucht dem großstädtischen Weihnachtswahnsinn zu entkommen? Mission Impossible, glauben Sie mir.
Es ist November und ich bin auf der Flucht. Call me Dr. Kimble. 

Ich fliehe vor Wham und vor "All I want for Christmas is you".
Vor lauter Angst, die Carey könnte mir eine rote Schleife, aus Satin womöglich, um den Hals binden, hetze ich durch die Vorweihnachtszeit. 
Die schönste des Jahres, soll es sein. Um die Straßenlaternen, von denen bevorzugt in besonders dunklen Gegenden nur jede fünfte funktionsfähig ist, winden sich lebensechte Plastiknadeln. Oh, Straßenlaterne, oh Tannenbaum. Es grünt so grün - halt, stop! Falsche Jahreszeit. 
Zwischen den golden schimmernden Leuchtmitteln, die inzwischen ganze Hausfassaden bedecken, fast als wären sie Efeu, klettert ein lustiger Weihnachtsmann - hohoho - vom vierten in den fünften Stock.
Vor meinem inneren Auge sehe ich automatisch Bruce Willis bei dem Versuch auf dem Rücken des Weihnachtsmannes einen weltvernichtenden Schurken zur Strecke zu bringen, langsam sterben und Danny Glover rappt dazu "Ich bin zu alt für diesen Scheiß." 
Mein inneres Auge ist per se nicht sehr weihnachtlich gestimmt.

Das mag daran liegen, that I'm not driving home for Christmas either, obwohl es damals, als die Kinderaugen noch leuchteten und ich jedes Jahr aufs Neue hätte schwören können, Santa Clause - bevor ein politisch nicht korrekter Getränke-Magnat eine absurdere Kunstfigur aus dem Mann vom Nordpol machte, als Tim Allen es je gekonnt haben würde - sei an unserem Haus vorbeigerauscht, ein schöne Bescherung war.
Die Aussicht allerdings zwischen Weihnachtshektikern und Weihnachtsphobikern, deren jährliches Zusammentreffen etwas von flirting with disaster hat, deren Jagd nach dem letzten und überteuerten Tannenbaum von Erfolg gekrönt war, aber nur um das Prachtstück nicht fest genug auf das Autodach zu binden, so dass die A7 spätestens um 12 Uhr 30 am 23. Dezember für mehrere Stunden voll gesperrt werden muss, auch nur in derselben Zeitzone zu verweilen, beschert mir schlimmere Alpträume als sie sich Rosemaries Baby ausdenken könnte.

Während die Stadt sich also schmückt, Außentemperaturen zwischen 10 und 15 Grad mehr von Herbst und Erntedank künden als von Schneemännern und Glühwein, eröffnen unerschrocken allerorten Weihnachtsmärkte. Zwischen den den Buden und der Glühwein-geschwängerten Luft sammeln sich Menschentrauben, diesen verzückt-entrückt-glasierten Ausdruck im Gesicht, als wären sie kandierte Äpfel. 
Derweil ducke ich mich im Supermarkt gerade noch rechtzeitig hinter eine Wand aus Spekulatius, um kampflustigen Zimtsternen zu entgehen. Zimtsterne sind die wahren Namensgeber für George Lukas Todesstern.
Ich widerstehe der Versuchung, einen Panic Room aus Adventskalendern zu bauen und weiche in letzter Sekunde den lockenden Christbaumkugeln aus. Wie schön sich alles darin spiegel -lein, Spieglein an der Wand - sieh da nicht hin! 
Ein Spießrutenlauf um rotnasige Rentiere und Mistelzweige herum - hohoho, catch me if you can.

So unauffällig wie möglich schlängele ich mich durch Lametta-Tentakel, an der Armee der Finsternis aus Geschenkpapierrollen vorbei. 
Aus den hell erleuchteten Geschäften strömen Menschen, bepackt mit Tüten und Tand. 
Gerade erst hat mir eine aufdringliche Werbung einreden wollen, ein Wassersprudler sei das (!) perfekte Weihnachtsgeschenk. Natürlich. Für Mutti ein Sprudelgerät und Vati bekommt dieses Jahr etwas Ausgefallens statt der üblichen Socken: Weihnachtsbier. Gleich einen ganzen Kasten. 

Kling, Glöckchen, Klinge-linge-beutel. Für die Bedürftigen ist in der beginnenden schönsten Zeit des Jahres nichts übrig; wir haben längst vergessen oder nie wirklich gewusst, worum es in der Weihnachtszeit geht.
Besinnlich und langsam zerbröselt mein zartbitteres Lebkuchenherz in der Vorweihnachtszeit. 

Montag, 21. November 2016

Paulas Protokoll

Donnerstag

Zwei Uhr sechsunddreißig
Dein Schnarchen klingt fremd. Es gehört nicht zu mir. Gedankenstriche malen ein Bild an die Wand. Schmatzend ziehst du die Luft ein. Meine Finger werden ein Ballungsgebiet.

Acht Uhr einundzwanzig
Paula, sagst du und versuchst sanft zu klingen. Du bist so unendlich bemüht. Manchmal. Deine Stimme ist wie Schleifpapier Stärke vier. Bearbeitet mich wie ein rohes Stück Holz.
Aufstehen. Du rüttelst an meiner Schulter. Seegang in mir.
Ja, sage ich durch geschlossene Lippen.

Neun Uhr fünfundvierzig
Was für ein Tag ist heute, frage ich. 
Donnerstag, antwortest du. Die Buchstaben der Morgenzeitung kleben zwischen deinen Zähnen. 
Gedruckte Schwärze.
Fühlt sich an wie Freitag. Es ist eine Feststellung.
Heute ist Donnerstag. 
Du bist so randvoll mit besser gewusstem. Milchkaffee läuft über den Tisch.

Zehn Uhr siebzehn
Ich gehe dann jetzt, sagst du. 
Die Morgenzeitung nimmt deinen Platz ein. Du küsst meine Stirn.
Zement in mir.

Zehn Uhr neunzehn
Du stehst an der Tür.
Paula, sagst du. 
Ich höre nichts. Gedruckte Schwärze verschließt meine Ohren.
Schmatzend ziehst du die Luft ein. Gewitter in mir.
Das Türschloss fällt.

Dreizehn Uhr drei
Das Telefon klingelt. 
Ich versuche zu denken, schreie ich den Apparat an und hebe nicht ab.

Dreizehn Uhr vier
Die rote Lampe brennt ein Loch in die Mittagsruhe. Ich stehe auf einem Bein und bin müde.
Ich bin's, schnarrst du mir entgegen. Wo bist du denn?
Die Frage ist unverschämt und geht ins Leere.
Ich springe auf dem linken Bein auf und ab. Gleichgewichtsstörung in mir.
Ich bringe was vom Chinesen mit, sagst du und legst auf.

Siebzehn Uhr elf
In ca. siebenundvierzig Minuten wirst du zurück sein. In deiner Hand eine Tüte mit lauwarmen Frühlingsrollen, die ich nicht will.
Draußen ist Winter. Brennnesseln in mir.

Samstag

Zwölf Uhr
Ich habe einen Tag verloren. Unter dem Bett ist er nicht. Ich habe nachgesehen. Außer einer Burg aus Staub ist da Nichts.
Kommst du, willst du rhetorisch wissen. 
Ich brauche ein zweites Leben, ein anderes Ich, denke ich schweigend und folge dir zum Auto.

Zwölf Uhr einundfünfzig
Du stehst im Vorgarten. Hinter einem knochigen Buchsbaum lugt ein Gartenzwerg hervor. Er raucht Pfeife, du eine Zigarette. 
Das Haus ist inbegriffene Spießigkeit. Der Zaun ist weiß. Deine Eltern wohnen hier. 
Würgereiz in mir.

Dreizehn Uhr neun
Wollt ihr nicht endlich reinkommen, ruft deine Mutter durch den Türspalt. 
Du nimmst meine Hand. Der Braten liegt in einer schweren Soße auf dem Tisch.
Den Kartoffeln fallen verkochte Augen zu.
Vorsichtig platziere ich die mintgrüne Serviette auf meinem Teller.
Stell dich nicht so an, sagst du und legst das mintgrüne Stück Stoff auf meinen Schoss.
Sturm in mir.

Dreizehn Uhr zweiunddreißig
Schmeckt dir der Braten nicht, Kind, fragt deine Mutter. Der Blick dringt durch die goldumrandete Brille.
Deine Mutter kennt meinen Namen nicht. Nach fünf Jahren nennt sie mich immer noch Kind, schreie ich dich stumm an.
Ich bin Vegetarierin, Hilde, sage ich laut. 
Bist du nicht. Stell dich nicht so an, schnaubst du und ziehst schmatzend fasriges Fleisch durch deinen Kiefer.
Steinschläge in mir.

Vierundzwanzig Uhr fünf
Deine Hand liegt abstrakt auf meiner Hüfte. Ich atme nicht.
Schläfst du, flüstert dein Mund. Ich denke an die Burg aus Staub unter dem Bett. 
Die abstrakte Hand bewegt sich. Ich friere ein.
Ich verstehe dich nicht, seufzt du schmatzend. 
Ja, denke ich.
Schwere Bratensoße in mir.

Mittwoch

Sieben Uhr
Das Geschirr vom Vortag ist ein Berg. Wasser spült meine Unterarme.
Paula, fragst du. Angst zuckt in deinen Hausschuhen.
Drahtseilakt in mir.

Vierzehn Uhr acht
Auf dem Bildschirm tanzt ein Muster.
Du stehst in der Tür. Die Krawatte hast du zu eng gebunden. 
Mein Kopf lehnt am Fenster. Draußen verweht Schnee.
Wo bist du, fragst du.
Ich ziehe am Vorhang.
Weg, sage ich.

Der Tag an dem Fred Astaire starb

Einleitung
“Wenn alles jetzt ist, ist jetzt für immer." 
Baltasar kehrt den Satz über den Küchentisch, lässt ihn wie einen Seitenwinder zwischen den schweren Rotweingläsern und über stagniertes Kerzenwachs zucken. 
Der Abend verhält sich gewöhnlich, vor der geöffneten Balkontür ist kalter Sommer.

Das plötzliche Schweigen legt einen Teppich für die Erwartung auf eine kluge Antwort aus. 
“Pseudo-intellektuelle Scheiße.” 
Rabea lässt ihren Ausbruch auf den Tisch fallen. Messerscharf trennt er den Seitenwinder in unregelmäßige Teile.
“Wie sind wir so geworden?” Baltasar hebt das schwere Rotweinglas nicht ohne Bitterkeit.

Am selben Abend, auf der anderen Seite der Stadt schließt Uta, alle Sorgfalt vorausgesetzt, den kleinen Kiosk zu. Zweimal dreht sich der alte Bart des Schlüssels knirschend in das passende Schloss. Die Müdigkeit liegt wie eine Stola um Utas elegant geschwungenen Hals. Aus der Ferne, im diffusen Licht einer Straßenlaterne, muss es einem zufälligen Passanten erscheinen, als wollte Uta zu einem Opernbesuch aufbrechen. Das bodenlange Cape, welches sie statt eines Mantels und zu jeder Jahreszeit zu tragen pflegt, hebt sich in nüchternem Grau von schräg liegendem Kopfsteinpflaster ab. Einen verstreichenden Moment steht Uta vor der verschlossenen Tür. Die geraden Schultern trotzig gestrafft, wendet sie sich dann beinahe plötzlich, so dass der zufällige Passant auf der gegenüberliegenden Straßenseite unversehens zusammen zuckt, seitwärts. Die flachen Absätze ausgetretener Schuhe hinterlassen eine geräuschlose Spur unter dem Laternenlicht. Uta sehnt sich unbestimmt. 

“Widerlich hat er mich genannt.” murmelt Hanno in die Leere eines kahlen Lofts. Außer dem Sieb, das eine kleinteilige Kräutermischung in kochendem Wasser gefangen hält, hört ihn niemand. Abwesend streicht Hanno die hemdsärmligen Karos glatt. Die Kräutermischung dampft. 
“Widerlich.” Er will über das Gespräch mit August nicht nachdenken. Der Versuchsaufbau war von vorneherein fehlerhaft, will sich seine gekränkte Eitelkeit einreden. Ein strategisch geplanter Rückzug hatte vor ihm gelegen. Und war ihm doch verwehrt geblieben.
Ein wütender Sturm war über ihn herein gebrochen, vor nicht ganz einer Stunde, zwischen zwei Parkbänken und einem Abendspaziergang. Hanno gießt sich das von Kräutern durchzogene Wasser in eine mit Ankern bemalte Tasse. Der Henkel fehlt. 
“August ist auch nur einer von vielen, die zu sehr auf ihr Äußeres achten.” sagt er sich.

Hauptteil
Das Leben vor dem Baulärm scheint Baltasar zu weit entfernt, als dass er sich erinnern könnte. Der Abriss sanierungsbedürftiger Altbauten findet nur eine Staubwolke entfernt statt. Sechs Uhr neunundzwanzig setzt ihn eine rote Digitalanzeige, lieblos von einem flimmernden Doppelpunkt getrennte Ziffern, ungerührt in Kenntnis. Baltasar drückt sich das daunengefüllte Kissen auf die linke Gesichtshälfte. Seine zugekniffenen Augen mustern Rabeas Silhouette. Unscheinbare Speichelfäden weben ein Muster über ihr Kissen. Die Gummibänder der Schlafmaske ziehen an Rabeas Ohren. 
Unwirsch schlägt er die Decke zurück. 

"Wie kannst du nur bei diesem Krach schlafen?" zischt er über die Schulter. Rabeas REM-Phase verweigert jede Reaktion. 
Baltasar schüttelt das Pochen in seinem Kopf, erdrückt den Hass in sich für den Augenblick. 
Auf der Suche nach seiner Anzughose stolpert er über sorglos abgestreifte Stiefel. Acht Zentimeter hohe Absätze, die ihn am Boden liegend verhöhnen. Der Presslufthammer unterbricht seine Arbeit bei sechs Uhr zweiundvierzig. 
Eine Erinnerung durchzuckt das Pochen oberhalb der Augenbrauen. An staubfreie, wolkenlose Tage, an denen acht Zentimeter nichts und sicher nicht die Welt bedeuteten. 

Er schubst einen der Stiefel unter das Bett. Sie wird mindestens eine halbe Stunde darauf verwenden, danach zu suchen. 
Die kleinen Hässlichkeiten gehören in den Alltag. Lautlos unter Türschwellen hindurch gekrochen, haben sie sich ausgebreitet und täglich an Deutlichkeit gewonnen. 
Baltasar streift den Gedanken an die morgendliche Boshaftigkeit mit den Boxershorts ab.

Wässrige Nadelköpfe treffen seine Schultern und den Rücken, der längst keine leidenschaftlichen Kratzspuren mehr trägt. 
Über die gemeinsamen Jahre ist aus Gewohnheit Gewöhnlichkeit geworden. Rabeas verschlafene Ohren hören das Wasser in den Siphon rinnen. Auf die Ellenbogen gestützt taxiert sie die Tür und sucht in dem dahinter liegenden Flur nach einem Streitgrund. Sie ist nicht wählerisch; der kleinste Anlass wäre ihr genug. 
Baltasar entzieht sich dem ritualisierten Tobsuchtsanfall. Er verlässt die Wohnung grußlos, bewegt sich mit ausfallenden Schritten auf den Baulärm zu. Der Presslufthammer nimmt seine Arbeit gewissenhaft bei acht Uhr siebzehn wieder auf. 

Verlassen schüttelt Rabea das kurzgeschnittene Haar. In der gähnenden Stille der Räume setzt sich die Einsamkeit wütend neben sie. Mit den Jahren wurden sie zu untrennbaren Verbündeten. Um daran etwas zu ändern, hätte sie weit vor diesem Morgen aufwachen müssen. Rabeas Blick fällt auf das eingerahmte Bild einer Hochzeit, die sie nur vage als ihre eigene erinnert.  

“Bist du noch da?“ ruft ihre raue Stimme in den Flur. Auf der anderen Seite der angelehnten Tür antwortet ihr Stille. Digitale Ziffern zeigen, von einem nervösen Doppelpunkt getrennt, acht Uhr neunundfünfzig an. Rabea verschließt ihre Ohren vor dem Baulärm. Ihr staubiges Herz trägt sie vor den Badezimmerspiegel. Einstudierte Bewegungen sichern ihr Überleben in der trostlosen Monotonie zwischen handgefertigter Lavendelseife und einer Küche im Landhausstil.

Rabea stürzt einen Kaffee, wenig Zucker, viel Milch, hinunter und verwendet einunddreißig Minuten drauf, ihren zweiten Stiefel zu suchen. Während Baltasar am anderen Ende der Stadt markige Werbesprüche zu einem Produkt von kapitaler Belanglosigkeit auf ein Storyboard fließen lässt. Er sieht auf den Stift in seiner Hand und stellt sich die drängende Frage, was geschehen könnte, würde er den Mut besitzen, zum Telefon zu greifen, sie anzurufen. Brächte ein einziger Anruf das Lot zurück und könnte er morgen oder am Tag danach, darauf verzichten, ihren Schuh unter das Bett zu schubsen. Die schreckhafte Sekunde vergeht. Der Stift ist nichts weiter als ein Stift und das nächste Telefon steht außerhalb des Raumes unerreichbar weit entfernt.

Die nächstgelegene Turmuhr weist auf die beginnende Mittagszeit hin. Aufgesetzten Prioritäten folgt Baltasar hinunter in den Park, ausfallenden Schritte führen ihn an dem kleinen Kiosk vorbei, hinter dessen Scheiben die stets gleiche Frau sitzt.
“Wie üblich?“ Uta greift hinter sich, zieht mit blinder Sicherheit ein Paket Tabak aus dem Regal, noch bevor Baltasar sich zu einem Nicken entschließt.

Uta sieht ihm nach, wie ihn seine ausfallenden Schritte zurück zu dem Bürogebäude tragen, das eine sich entwickelnde Stadt wenige Jahre zuvor aus dem Boden in die freiflächige Aussicht stampfte. Er erinnert sie.

Der Mittag lässt Uta Zeit.
Der junge Mann ist mit seinen Kaugummis und den bubenhaften Zügen längst außer Sichtweite geschritten. Uta will der Erinnerung  nicht erlauben, sich auszubreiten. Sie rückt Zeitschriften gerade, zählt Sekunden. Ihre vorgeschobene Gelassenheit ist ein Täuschungsmanöver der Umwelt zu liebe. Ihre größte Schwäche, die sie aufrecht hält, die Rücksichtnahme. Die Erinnerung schert sich nicht um Rücksicht, übernimmt stattdessen Utas Bewusstsein. Aus dem schattigen Damals tritt die Begebenheit zurück auf die sommerliche Bühne des Heute. 
Hector lehnt an einem Laternenmast, den linken Fuß vor den rechten gestellt. In ausgebeulten Manteltaschen graben seine Fäuste nach Wärme. Das Frühjahr hält sich für Herbst. Uta sieht ihn dort lehnen, den jungen Mann mit den bubenhaften Zügen. Die Szene mutet in ihrer tatsächlichen Unwirklichkeit schwarz-weiß an.
Ihre Schritte verlangsamen sich in der Betrachtung.     

Hector sieht auf, als sie längst vor ihm steht.
Die Begrüßung passt sich den regenabweisenden Jacken vorbeihastender Passanten an. 
„Komm.“ sagt Hector mühsam beherrscht und greift nicht nach ihrer Hand, wie in den verflogenen Monaten. Die Klarheit darüber, dass sie nicht erfahren will, sich nicht das Geringste verändern soll, erschlägt ihre Gegenwehr. Sie folgt. 

Hectors Schritte lenken sie in eine mögliche Richtung. Trockene Worte stolpern in den zwischen ihnen gehaltenen Abstand.
„In einer anderen Zeit. Oder vielleicht nur unter anderen Umständen. Du weißt, ich bin ungeschickt mit Worten. Es war schön. Aber.“
Utas Hand will sich auf Hectors Arm legen. Ihr Verständnis möchte sie ausbreiten, ihn darin einhüllen, würde er dann nur aufhören zu sprechen. Ihr Wollen erstickt.      

„Zu einer anderen Zeit. Du wärst die Liebe meines Lebens gewesen. Ich bin sicher. Es ist nur. Wie soll ich. Meine Einfälle werden dir nicht gerecht. Ich stehe am Spielfeldrand und sehe dir zu.“
Seine Schritte halten ein. Uta zieht das Cape, welches sie stets, zu jeder Jahreszeit und anstatt einer Jacke zu tragen pflegt, enger um den schmalen Körper. Ihre Hände wissen sonst nichts mit sich anzufangen.

„Es ist vorbei.“ murmelt Hectors trockene Stimme. Uta nickt und ist dankbar, als der junge Mann seine bubenhaften Züge abwendet. 
Zwischen der Erinnerung und den überbelegten Regalen ist der Nachmittag leise fortgeschritten. Uta scheucht den Klang des Damals zurück in den Schatten, fährt mit einem Microfasertuch den Verkaufstresen entlang. Schrill macht sich die geöffnete Tür bemerkbar. Als Utas Schultern sichtbar zusammenzucken, lassen ihre Hände das Microfasertuch verschwinden. 
 Auf der anderen Seite der Stadt entscheidet Rabea sich für einen weinverhangenen Abend. Zu der Kühle des Sommers will Weißwein ebenso wenig passend erscheinen wie zu der Kälte der Küche im Landhausstil. Baltasar bevorzugt Weißwein. In seiner Abwesenheit stellt Rabea demonstrative Rotweingläser auf den Tisch vor der Balkontür. Für einen unscheinbaren Moment schleicht sich die Vermutung an sie heran, es könnte ein schöner Abend werden, würde sie Weißweingläser auf den Küchentisch stellen, dazu ein leichtes Essen. Die Vermutung verscheucht Rabea mit einem rauen Lachen, als sie die Straße betritt.

Das Kostüm der liebenden Ehefrau will ihr nicht stehen. Ungeduldig bahnen sich ihre Stiefel den Weg zwischen den heimkehrenden Büroangestellten hindurch. So sehr ist sie auf den eigenen Vorteil bedacht, dass ihr nicht einfällt, dem Kompromiss Platz zu schaffen. Der Abend klopft an die Pforten der Stadt. Wolkenbänder färben sich orange-rosa.
Hanno bemerkt die schnellen Schritte der blonden Frau zu spät. Schulter an Schulter stoßen sie auf dem belebten Bordstein zusammen. Rotwein kriecht in den Rinnstein. Die raue Stimme bricht fassungslos über Hanno herein.
„Hast du keine Augen im Kopf?“

Eisern halten Rabeas Hände an zwei unversehrten Weinflaschen fest. Die Wut über den zerflossenen Wein verzerrt ihre Gesichtszüge. Hanno sammelt neben dem Inhalt seiner Tasche seine Gedanken vom Boden auf.
 „Es – entschuldigen - “
 „Vergiss es!“ Rabea steigt fauchend über einen Taschenkalender hinweg.
Einen Augenblick sieht Hanno ihr nach, wehrt die helfende Hand eines Fremden dankend ab. Eilig setzt er seine Schritte fort. Ein unbemerkter Fleck spannt sich über die hemdsärmligen Karos.
Im Verborgenen ficht die Unsicherheit einen längst verlorenen Kampf. Eine Ahnung krallt sich in den Hemdkragen, nicht bereit ihren Griff zu lockern.
Wenige Wochen liegt der Tag zurück, an dem Hanno der verzweifelten Versuchung nachgibt. In einem vor unsichtbarem Schmutz starrenden Raum greift er nach der nächsten Hand. Einen letzten Versuch, sich aus dem eingemauerten Leben, das er sich unabsichtlich geschaffen hat, zu befreien, will er an diesem Tag unternehmen. Die Hand begegnet seiner Berührung freundlich, hält sich an ihm fest. Ein warmes Gefühl der Hoffnung durchflutet seinen kleinen Finger, breitet sich gänzlich über den Körper aus. Einige Stunden später, unter dem diffusen Licht einer Straßenlaterne, hält sich die Hand noch immer an Hanno fest. Er sieht in Augusts Gesicht und die Ahnung, die jetzt feste Krallen in seinen Hemdkragen schlägt, kriecht leise an seinem Bein empor. Die wenigen Wochen füllen sich mit sprachlosen Verabredungen. Auf ungezwungene Kinobesuche folgen Spaziergänge, die sich in Abende ausdehnen. Eine menschgewordene Phantasie, die Glück verheißt und Hoffnungen auslöscht.  
August steht abweisend an verabredeter Stelle. Heute werden sich die Hände nicht halten. Der kalte Sommer legt unausweichliche Stille auf den vergehenden Tag. Hanno sucht nach einem Zeichen, das den Rest von Vertrauen rechtfertigt und findet nichts. Die Ahnung packt ihn fester. Ungleich setzen sie sich nebeneinander in Bewegung. Vor ihnen liegt die schweigende Wahrheit zwischen Kieselsteinen und Zigarettenkippen.  
 „Ich empfinde. Du bist widerlich.“ Die Tonlage duldet keinerlei Widerspruch und setzt den vergangenen Wochen ein unausgewogenes Ende. Die Gründe lässt August neben Hanno in der Dunkelheit stehen. 

Schluss
Die Zeit verläuft sich, während die Erde sich behäbig dreht. Es ist der 22. Juni 1987. Der Tag, an dem Fred Astaire starb.

Davids Dachboden

Als ich das erste Mal neben deinem Bett stehe, kenne ich dich gemessen an einem Leben dreieinhalb Sekunden. Der Stapel Bücher auf der Heizung sticht mir die Augen aus.
Ich mag Menschen, die lesen. Denke ich. Und setze ein schiefes Lächeln auf.
Das mache ich immer so, wenn mir etwas gefällt. Ich habe das Lächeln studiert, könnte eine Akademie leiten.

Du liest gerne. Frage ich.

Dein Kopf schüttelt sich selbst.
In den Büchern liegen eingestaubte Lesezeichen. Das sehe ich jetzt. Wenigstens knickst du die Seiten nicht um.

Ich kaufe gern Bücher. Sagst du. Ein stiller Moment hängt zwischen Dielen und Decke. Du erklärst dich.
Im folgenden Jahr wirst du mir erzählen, dass du musstest, weil sich mein Lächeln gerade gerückt hat. Du mochtest es schief lieber.

Im Jetzt, als ich neben deinem Bett stehe, sagst du:
Buchhandlungen beruhigen mich. Nicht die großen, die zu einer Kette gehören. Die Kleinen, wo die Regale bis unter die Decke reichen. Einmal im Monat, durchschnittlich, suche ich nach einer kleinen Buchhandlung und verbringe den Tag dort. Am Ende des Tages kaufe ich ein Buch, manchmal zwei. Auf dem Weg nach Hause beginne ich zu lesen. Wenn die Geschichte mir gefällt, lege ich ein Lesezeichen hinein und das Buch auf den Stapel da drüben. Sobald das Jahr zu Ende ist, am 31. Dezember also, packe ich die Bücher in eine Kiste, schreibe die Jahreszahl darauf und bringe sie auf den Dachboden. Am 2. Januar kaufe ich neue Lesezeichen.

Meine Augen halten eng zusammen, als sie dich nach dem Warum fragen.

Ich ertrage das Ende einer Geschichte nicht. Sagst du.

In deiner Wohnung, das sehe ich am nächsten Morgen, stehen keine Regale. Im Flur hängt ein Schlüsselbord aus dem Baumarkt, an dem nur ein einziger Schlüssel baumelt. Dachboden steht über dem Haken.

Zeigst du ihn mir. Frage ich, als du Kaffee kochst.

Du sagst nicht Ja, nicht nein. Warum bist du geblieben. Fragst du stattdessen.
Darauf weiß ich nichts zu sagen als, weil ich es wollte.
Ich bin nicht daran gewöhnt, dass jemand bei mir bleibt und koche Kaffee stets nur für eine Person. Sagst du.

Dann nimmst du den Schlüssel vom Haken und winkst mir, dir zu folgen. Das Haus, indem du im zweiten Stock, Südseite, wohnst, ist alt. Die Treppenstufen erzählen knarrend Geschichten, als wir auf Zehenspitzen durch den Mietshausgeruch zum Dachboden schleichen und mit unseren Schritten Holzwürmer wecken.
Es ist Sonntag und es ist früh. Wir wollen die Nachbarn nicht stören und haben die Rücksichtnahme erfunden.
Auf der obersten Stufe drehst du dich zu mir um, als wolltest du dich vergewissern, dass meine Schritte Wirklichkeit und nicht das einsame Echo deiner eigenen waren. Du legst den Finger an die Lippen. Ich nicke und mache ein selbstverständliches Gesicht, obwohl ich dich laut küssen möchte.
Zwischen deinen Augenbrauen steht eine Falte, als du die Tür aufschließt, so als müsstest du dich überwinden.
Ich stehe zwischen zwanzig Kisten, 1989 lese ich auf derjenigen direkt zu meinen Füßen.

Das Jahr, in dem die Mauer fiel und mein Leben einstürzte. Sage ich zu den Wänden deines Dachbodens.

Du machst einen Schritt und die Kiste auf.
Welches Buch gleich oben auf lag, erinnere ich nicht mehr. Du nimmst meine Hand, als gäbe es nichts anderes zu tun, fest gehalten hast du mich. Du wüsstest, welches Buch uns an diesem Morgen aus 1989 angestarrt hat. Aber du bist nicht hier.

Stunden verbringen wir auf deinem Dachboden. Im Staub der Vormieter sitzen wir mit einer Gartenlaterne zwischen deinen Kisten. Ich lese dir vor. Solange bis die Wörter meine Stimme brechen und du schlafen kannst.

Wir leben Selbstverständlichkeiten in einem Rhythmus, den nur wir kennen. Die Zeit fließt, weil es das ist, wofür Zeit bestimmt ist.
Wann weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, es war ein Tag im Frühling, weil ich dein Niesen noch hören kann. Du hast Heuschnupfen und auf einer Wiese blüht ein Meer aus Löwenzahn. Wir bauen Regale in einer größeren Wohnung auf, jagen uns Holzsplitter in die linken Hände. Deine Bücher befreien wir aus ihren Kisten und kleben auf Folie gedruckte Jahreszahlen auf die Böden der Regale.
Die Gartenlaterne stellen wir auf den Balkon.

Ich lese dir vor, bis die Wörter in zur Hälfte gefüllten Weingläsern schwimmen und du schlafen kannst.
Der Dachboden bleibt staubig und unbesessen.

Die Küchenwand streichen wir eisblau und streiten über den Pinselstrich bis die Farbe trocknet.

An der Wand neben der Tür hängst du konserviert mit deinem Winterlächeln und erinnerst mich an Liebe.
Ich besuche dich nicht mehr oft.

Deine Bücher sind zurück in die Kisten verpackt. Unsere Freunde tragen sie schwitzend auf den Dachboden und mich fragen, ob ich sicher bin.
Ja. Lüge ich mit roten Wangen.
Die Regale baue ich ab und liege auf dem Küchenboden, während das eisblau schmilzt und du den Winter hinter Glas einfach davon lächelst.
Ich werfe Bücherweise Wörter nach dir und ertränke meine Stimme in Wein, lange bevor sie bricht. Erst mit schreiender Zurückhaltung, bald schon mit leiser Wut.
Dein Lächeln bleibt starr. Das Eisblau tropft und es wird Sommer.

Ich mag den Sommer nicht. Höre ich dich sagen. Er ist mir zu leicht.
Als ich dich finde, reitet die Hitze durch die Stadt.
2009 ist das Jahr, in dem ich einstürze und du das Ende der Geschichte nicht erträgst.

Ohne Titel

Ich stehe im Hausflur und habe wieder diesen Ausdruck im Gesicht. Obwohl im Treppenhaus weder Spiegel angebracht sind, noch die Strukturtapete das Abbild meines Gesichtes zurück wirft, weiß ich genau, ich sehe aus verwirrten Augen auf in grau-blaues, sturmblau ist der wohl korrekte Terminus, PVC gekleidete Treppenstufen, während meine Nase sich irritiert rümpft.

Der Grund für die mich plötzlich anfallende Irritation ist der Geruch, der am Geländer bis zum 4. Stock oder sogar auf den Dachboden hinauf klettert. An einem Montagmorgen sollte es im Treppenhaus nach dem Beginn einer neuen Woche, ausgetretenen Sportschuhen oder Bügelwäsche riechen. Oder ohne viel Aufhebens nach Mietshaus. Kaserne. Alten Menschen.

Stattdessen klettert vergnügt der Duft von Biokaffee, leicht verbrannten Aufbackbrötchen und gekochten Eiern, perfekten 3-Minuten-Eiern, am Treppengeländer hoch und an mir vorbei.
Sofort wähne ich mich in einer Fernsehwerbung, erwarte von mir frisch gepressten Orangensaft aus einer mundgeblasenen Karaffe in ein formschönes Glas laufen zu lassen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine reich gedeckte Tafel, ein Sonntagsfrühstück der Extraklasse. Die Dame des Hauses hat selbst daran gedacht, den Schnittkäse mit 3 in Länge und Dicke perfekt zueinander passenden Schnittlauchhalmen zu garnieren. Auf Omas gutem Geschirr, das gerade noch vor den zerstörerischen Kräften des Krieges gerettet worden war, damals war man achtsam, hatte ja schließlich auch nichts, dessen Goldrand im Laufe der Jahrzehnte zusehends verblasste, liegen aus Radischen geschnitzte Rosen.

Während mein geistiges Auge sein persönliches Daumenkino inszeniert, stelle ich fest, Radischen gehören, ob nun zu Rosen geschnitzt oder in ihrer Ursprungsform, weniger auf einen Frühstückstisch als zu einem Brunch. 
Für einen Brunch, bei dem für gewöhnlich alles inklusive ist, nur die Getränke nicht, weshalb man sich an einem Glas irgendeines Saftes und einer Tasse Kaffee, höchstwahrscheinlich nicht Bio, festhält und plötzlich ein staubtrockenes Gefühl die Speiseröhre herunter kriecht, ist es jedoch eindeutig zu früh am Morgen.
Es sei denn, genau wissen kann ich das natürlich nicht, aber es könnte schon sein, hinter der Wohnungstür vor der sich das Duftgemisch aus Biokaffee, leicht verbrannten Aufbackbrötchen und gekochten Eiern, gewitzt auf das Treppengeländer schwingt, lebt ein Rebell im Morgenrock, dessen Füße in pastellfarbenen Plüschpantoffeln stecken. 

Ich versuche dem unvermeidlich aufsteigenden Bild meiner Nachbarn in Morgenrock und pastellfarbenen Plüschpantoffeln gekleidet zu entgehen, indem ich die Treppen in einem dem Montagmorgen ganz und gar nicht angepassten Tempo herunter rase, das Duftgemisch landet zeternd auf den Briefkästen, folgt mir durch die Tür des Hauses nach draußen und löst sich in der Nebelwand zwischen zwei Straßenlaternen urplötzlich auf, als wäre nichts gewesen.
Zweifelnd werfe ich den Blick über die Schulter, zurück in den Aufgang. Bei aller Mühe jedoch, die sich meine zugekniffenen Augen und die entrümpfte Nase geben wollen, kann ich nichts entdecken, das für einen Montagmorgen untypisch erscheinen mag.

Der Aufgang liegt still und duftlos hinter der Tür.
Fast ein bisschen erleichtert, als sei der verwirrende Augenblick im Inneren des Hauses ein Streich gewesen, den mein noch wochenend-müder Geist mir in einem Anflug von missverstandenem Humor zu spielen gedachte, setze ich den Gang in den Tag, begleitet von einem vollkommen normalen Pulsschlag, fort. 

Die mir entgegenkommenden Menschen, wobei sie nicht besonders entgegenkommend wirken, tragen den Winter im Gesicht wie am Leib, obwohl ganz entschieden spät-herbstliche Temperaturen herrschen. 
Vor nicht ganz 72 Stunden fanden sich die Gradzahlen in Kellerräumen, hinter der Weihnachtsdekoration und den längst in Vergessenheit geratenen Kisten, die Spielzeug und Kinderbüchern ein leicht schimmlig-muffiges Zuhause bieten, an. 
Jetzt aber sind die mit Kunstfell ausgeschlagenen Stiefel schon mehr als nur ein modischer Fehlgriff, vielmehr sind sie unangemessen, sorgen gepaart mit den schweren, langen Wollmänteln in gedeckten Farben für unbehagliche Hitzewallungen. 
Der Asphalt dampft unter der unerwarteten Last erhöhter Temperatur.
Schnaubend und wetterfühlig streifen schlecht gelaunte Menschen durch den Morgen. Anstatt die neue Woche, die vierte eines neuen und unverbrauchten Jahres, mit einem Freudensprung zu begrüßen, den gedeckten Wollmantel gegen etwas leichtes, buntes einzutauschen, wie eine pink-gelb karierte Regenjacke. 

Insgesamt ginge es, genau wissen kann ich das natürlich nicht, aber es könnte schon sein, in der Welt ein wenig bunter zu, würden in der so genannten dunklen Jahreszeit, die sich  mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine andere, weniger trostlose Umschreibung für sich selbst ausgedacht haben würde, weniger knöchellange, schwere Wollmäntel verkauft und stattdessen mehr Wert auf frohe Farben gelegt. 
Dann fiele der Freudensprung in diese oder jede andere neue Woche vermutlich auch nicht so schwermütig aus, sondern ginge leicht von den Füßen.

Überhaupt wird viel zu wenig gesprungen. 
Früher sprangen wir in Pfützen oder Bachläufe, wobei ich einsehe, einen Bachlauf mitten in der betonierten Großstadt zu finden ist in etwa gleichbedeutend mit dem Versuch die Welt von Narnia im eigenen Kleiderschrank zu entdecken. Jedoch kein Ding der vollständigen Unmöglichkeit. Wir sprangen von Klettergerüsten und Schaukeln, in ein Abenteuer und das Ungewisse. 

Ich stehe an der Ampel und habe wieder diesen Ausdruck im Gesicht. Obwohl weder die von einem Rest Regen und Nebel nass glänzende Straße das Abbild meines Gesichtes nicht zurückwirft, noch an der Ampel Spiegel angebracht sind, weiß ich genau, ich sehe aus verwirrten Augen auf die gegenüberliegende Seite der Straße, wo ein Mops mit ungerührter Selbstverständlichkeit sein Bein hebt und auf die grau-schwarz getünchten Menschen.
Aus dem Augenwinkel nehme ich ein scheinbar ebenfalls anständig verwirrtes Gänseblümchen wahr, das sich in der Jahreszeit geirrt haben muss, entschließe mich dem Impuls, es mir an den Hut zu stecken nicht nachzugeben. Wer weiß, wo der Mops noch vor wenigen Minuten selbstverständlich war.
Aber gleich morgen, am zweiten Tag dieser vierten Woche eines vollständig unverbrauchten Jahres kaufe ich eine pink-gelb karierte Regenjacke, das Symbol wider der Tristesse, springe mit beiden Beinen voran in ein ungewisses Abenteuer und den nächstbesten Bachlauf der Großstadt, auch wenn er sich als nur eine Pfütze tarnt. 

Liebe, Sex, Internet und AFD

Finden Sie auch, dass die Welt aus den Fugen gerät? Überall ist von Untergang zu lesen. Selbst Zweckoptimisten beschleicht das Gefühl, der blaue Planet tanzt ein bisschen zu ausgelassen am Rande eines Vulkans. Als hielte sich die Erde für stärker als Pompeji.
Besonders im Internet ist die Auflösung jeglicher Ordnung erstens praktisch schon beschlossene Sache und zweitens nicht mehr aufzuhalten. 

Trump, die Afd, Ausnahmezustände in Frankreich und lassen Sie uns bitte nicht über Kinderarbeit oder Primark sprechen. Den Mantel des tiefen wie dumpfen Schweigens möchte ich außerdem über Essgewohnheiten hüllen – leben Sie vegan?
Ich verbringe durchschnittlich viel Zeit im Internet, überdurchschnittlich viel davon in sozialen Netzwerken. Neulich aber bin ich auf der Datenautobahn zwischen dem fünften Twitteraccount und der dritten als Eilmeldung verkleideten Schlagzeile – ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Alles eilt dieser Tage – falsch oder eben genau richtig abgebogen.

Wo ich gelandet bin? Im Internet der Dinge. Kennen Sie? Mir war es neu, neues Land, wenn Sie so wollen. Und ich kann Ihnen versichern, ich bin begeistert.
Das Internet der Dinge ist ein friedlicher Ort. Ein happy place – weil niemand, auch ich nicht ohne naice Anglizismen auskommt.
Dort hören Sie nichts vom Populismus der AfD, deren sächsische Fraktion gerade mal wieder von sich reden macht, weil Vibratoren jetzt auch lautlos können. Das ist ein Problem und zwar deswegen, weil lautlose, also insbesondere lautlose, Vibratoren die Lust am Kinder kriegen zerstören. Die Gesellschaft wird aussterben, weil es lautlose Vibratoren gibt. 

Davon aber hört man im Internet der Dinge nichts. Stattdessen findet sich dort ein Vibrator, der – und ich bin nicht sicher wie Sachsens oder überhaupt eine AfD das fände – verschiedenes speichert. Häufigkeit wie Dauer der Nutzung, die verwendeten Vibes und sogar ermöglicht eigene Vibes zu erstellen und die mit anderen Nutzern zu teilen.

Per App und Bluetooth verbindet sich das Gerät mit dem WWW, um den ganzen schönen Datenstrauß hochzuladen. 
Warum man, frau, mensch das braucht? Fragen Sie mich nicht, aber ist das nicht toll? Hegten Sie nicht auch schon längst den Wunsch, die Nutzung Ihrer Toys mit anderen teilen zu wollen? Vielleicht sogar eine Competition daraus zu machen?
„Schatz, die Müllers von nebenan haben diesen Monat dreimal häufiger vibriert als wir.“
You’re the King and Queen of Vibration. Kudos. Sex up your life. Das ist Ansporn.
Im Internet der Dinge ist aber auch für Romantik Platz. Reichlich sogar. 

Nun ist der Valentinstag noch eine kleine Weile hin und – sofern Sie zu den Zynikern gehören – ohnehin eine Erfindung der Süßwaren-, Blumen- und Kartenindustrie, aber die Geschenkideen aus dem Internet der Dinge lassen selbst den schärfsten Kritiker schmelzen. 
Stellen Sie sich vor, es gibt Ringe, die den Herzschlag Ihres Partners übertragen. Stimmungsringe waren gestern; vergessen Sie die hippiesken Farbwechsler.

Stecken Sie Ihrem Lieblingsmenschen – ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Lieblingsmenschen hat dieser Tage fast jeder, ein bisschen als wären Sie Haustiere – einen Ring an den Finger, der per App und Bluetooth, wie denn auch sonst, Ihren Herzschlag überträgt.
Flippen Sie aber nicht gleich aus, wenn Sie auf den Ring patschen, denn das müssen Sie, um den Herzschlag des Anderen, nun romantisch ist anderes, anzufordern und nichts passiert. Voraussetzung für diese Verbindung ist, dass auch der Andere seinen Ring an die App gekoppelt und eine, bestenfalls stabile, Datenverbindung hat. 

„I just called to say I love you“ hat ausgedient. Heute heißt es “I just tappt to hear your heart beat.” Und alle so “Awwwww”.
Schnucklige Idee und für Frischverliebte, die sich nicht voneinander trennen wollen, nicht mal für fünfeinhalb Sekunden, ein Must-Have.
Meinen Sie nicht auch? Ein Ring, sie zu knechten, alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden – ach, nun kommen Sie schon, seien Sie mal ein bisschen aufgeschlossen. 
Denn das Internet der Dinge bietet noch mehr. Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, spricht des Volkes Mund so weise. 
Das oder etwas ähnliches müssen sich die Macher eines Kissens mit dem Namen „Pillow Talk“ gedacht haben. 

Diese Kissen nämlich leuchten auf, wenn sich der Andere ins Bett legt. Doch, ehrlich.
Fernbeziehung mit Nachtlicht. Zu den Kissen gehört auch ein Ring – das zieht sich thematisch durch, merken Sie – der natürlich den Herzschlag des Anderen überträgt. Bluetooth auch hier das Zauberwort. Und schwupps schlafen Sie zu den Herztönen Ihres Long Distance Lovers ein. Schön. 

Hier, das muss ich zugeben blieb ich etwas verwirrt an meinem neuen Happy Place zurück.
Pillow Talk kenne ich nur als Film mit Doris Day und Rock Hudson, heißt übersetzt „Bettgeflüster“, was mit Herzschlägen nur am Rande und mehr mit Erregung als Schlafen zu tun haben sollte, wenn Sie mich fragen.
Vielleicht fragen Sie mich besser nicht. Ich schlafe zu den Drei Fragezeichen ein und das sehr gut.
Ungeachtet dessen sah ich mich aber weiter um.
Und fand mein persönliches Muss-ich-haben-will-ich-brauch-ich-Gadget: Eine Weinflasche.
Sie fragen zurecht, was eine Weinflasche im Internet der Dinge zu suchen hat. Ich will es Ihnen gerne erklären. Diese wahnsinnige Gerät sorgt dafür, dass Ihr Wein nie, nie, nie wieder oder wenigstens für die Dauer von 30 Tagen nicht schal oder schlecht wird, auch wenn Sie nur ein Gläschen naschen möchten und die Flasche dann tagelang stehen lassen. Ein Lebenshelfer frei nach Harald Juhnkes Philosophie: Die Vorstellung von Glück – keine Termine und leicht einen sitzen.
Damit Sie auch immer wissen, was Sie trinken oder direkt nachbestellen können, ist dieses Weinflaschen-Gehäuse, in das Sie faktisch mit Wein gefüllte Thermoskannen, die luftdicht abschließen, stecken, mit einem LCD-Bildschirm und Wifi ausgestattet.
Ich hab’s Ihnen gesagt: Ein Knaller!

Vergessen Sie Kühlschränke, die in vorauseilendem Gehorsam Sojamilch ordern, Heizungen, die sich mittels App regulieren lassen und Beleuchtung, die aus der Ferne steuerbar ist. Wein in Thermoskannen – das ist der heiße Shit.

Und wenn Sie schon beim Vergessen sind, machen Sie es wie ich: 

Trinken Sie ein Glas auf die Welt, ihre Zustände, tanzen Sie ausgelassen am Rande des Vulkans, vor allem aber heben Sie Ihr Glas mit 30 Tage altem Wein auf die Happy Places und den Nonsense, denn ich glaube, so lange Menschen über lautlose oder App-gesteuerte Vibratoren wie Herz schlagende Kissen und Ringe oder Duschköpfe mit integriertem Radio nachdenken, sterben weder wir noch der Humor aus, ganz gleich, was die sächsische oder irgendeine AfD glaubt, wer am roten Knopf sitzt oder ob der nächste Hobby-Nostradamus uns den baldigen Untergang voraussagt.
Finden Sie einen Ort, links ab von der Datenautobahn, der Sie zum Lachen bringt. Das ist schon die halbe Miete, auch so eine weise Redensart. Und gar nicht mal so falsch.

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Gustavs Katze

Wenn Gustav auf einem Stuhl sitzt, baumelt er mit den Beinen. Erst schwingt er mit dem rechten, dann mit dem linken Bein. Immer im Wechsel und nie andersherum.
Gustav ist Linkshänder, was daran liegt, dass seiner rechten Hand der Daumen fehlt. Der ist im Herbst 1953 versehentlich in den Häcksler seines Onkels Ewald geraten. Gustav blutet und schreit, aber den Daumen ist er los. Endgültig.
"Sei vorsichtig." hat seine Tante gemahnt. "Geh da nicht so dicht heran, Junge." hat sie gerufen. Und später gesagt: "Das hast du jetzt davon."
Als Gustav seinen Daumen verliert, ist er vier Jahre alt und ungefähr 105 Zentimeter groß. 
Gustav sitzt auf einem Stuhl, der ein bisschen knarrt und baumelt mit den Beinen.
Es kann vorkommen, dass sein linkes Bein etwas zu vorwitzig schwingt und er die gerade vorbei schleichende Katze erwischt.
Die Katze ist dick, weswegen sie eine ungünstig kurze Flugbahn beschreibt.
Sie landet auch nicht auf ihren Pfoten, obwohl es von Katzen heißt, das würden sie stets. Auf ihren Pfoten landen.
Gustav hält sich weder für einen Tierquäler noch für einen netten Menschen.
Er ist schlicht Gustav, dem der Daumen der rechten Hand fehlt und den seine Klassenkameraden dereinst "Stummel" riefen.
Wirklich bedauert hat Gustav den Verlust seines Daumens nie. Wie es sich anfühlt mit zehn Fingern durchs Leben zu gehen, daran erinnert sich Gustav nicht mehr.
Die dicke Katze sträubt beleidigt ihr Fell.
Manchmal, wenn sie in der Hofeinfahrt liegt und die Sonne in einem bestimmten Winkel steht, glänzt das Fell der Katze als sei es aus Seide gemacht.
Gustav streichelt die Katze nie. Er will nicht so weit gehen, zu sagen, dass er Katzen im Allgemeinen nicht mag. Oder ein Hundemensch ist.
Er ist ein Mensch, der diese eine Katze nicht mag. Deshalb nimmt er den Schwung seiner baumelnden Beine nicht zurück und der Katze übel, dass sie weder weit genug fliegt, noch besonders elegant landet.
Die Katze erfüllt seine Erwartungen nicht. 
Er wird sie nicht los. Seine Erwartungen genauso wenig wie das dicke Tier.
Wann die Katze einzog, weiß Gustav nicht mehr. Plötzlich war sie da. An einem Tag, als die Sonne nicht in einem bestimmten Winkel stand oder schien, lag sie in der Hofeinfahrt.
Unelegant und dick. Das nimmt Gustav übel. Von Beginn an. Er stellt ihr eine Schale mit Wasser auf die unterste Stufe der Treppe, die zum Haus führt.
Die Katze soll nicht denken, sie könnte es gut bei ihm haben. Deshalb bekommt sie keine Milch. 
Die Katze schert das nicht; eine Schale mit Wasser reicht ihr aus. Sie setzt ihre Pfoten auf der untersten Treppenstufe auf und blickt über den Rand der Schale zu Gustav hinauf. 
Gustav sitzt auf einem Stuhl, schwingt mit den Beinen und sieht auf die Katze hinunter. 
Die vier Finger seiner rechten Hand trommeln auf der Stuhllehne. Ein arhythmisches Geräusch. Die Katze wuchtet ihren dicken Bauch unbeirrt Stufe um Stufe die Treppe hinauf. 
Gustav stößt den Stuhl zurück, richtet sich zu seiner vollen Größe auf.
183 cm werfen einen Schatten über die Veranda, die Treppe hinunter, in den Hof. 
Die Katze verharrt auf der dritten Treppenstufe. Gustavs Arme beginnen zu rudern, um das Tier zu verscheuchen. Es bleibt bei dem Versuch. 
Der Tag, an dem Gustav rudernd auf der Veranda steht, ist der Tag, an dem die Katze einzieht. 
Die Katze hat sich seit dem nicht verändert. Ihr Fell glänzt in der Sonne, als sei es aus Seide gemacht. Sie hat weder an Gewicht gewonnen, noch ist sie schmaler geworden.
Wenn Gustavs schwingende Beine sie in die Luft befördern, beschreibt ihr Körper eine zu kurze Flugbahn und die Landung ist stets unelegant.
Gustav rechnet der Katze das an. Veränderungen kommen Gustav ungelegen. 
Als ein Brand zwischen 1973 und heute einen Teil des Hauses zerstört, verändert sich alles. 
Der Wandel tritt nicht plötzlich ein. Das Feuer wird gelöscht, das Haus Instand gesetzt. Der Brandgeruch verfliegt, die Teppiche werden erneuert. Nur fünf kurze Wochen nach dem wütenden Feuer fühlt Gustav sich unversehrt und gewöhnlich. 
Der Staub legt sich mit der Aufregung. Die Tage vergehen zwischen Feldarbeit und Alltäglichem. 
Gustav sitzt auf einem Stuhl und schwingt mit den Beinen.
Onkel Ewald hustet im hinteren Teil des Hauses in einen Suppentopf. Die Tante mahnt: "Sitz grade."
Gustav verkennt den Sinn der Mahnung, stört sich an dem Röcheln seines Onkels.
Onkel Ewald hustet nicht nur tagsüber in den Suppentopf. Auch des Nächtens spuckt seine Lunge rasselnd in die über dem Hof ausgebreitete Stille. Diese Stille, wie sie nur auf dem Land hörbar ist. Weit entfernt von lärmenden Großstädtern, die für nichts weiter Augen haben als ihr Spiegelbild im nächsten Schaufenster einer aufpolierten Einkaufsstraße. 
Gustav liegt in seinem Bett, das rechte Bein steht auf den Holzdielen seiner Stube, und sieht nichts in der Dunkelheit. Er lauscht auf das unregelmäßige Keuchen, das über den Flur kriecht.
Mit jedem Husten bohrt sich die Ferse seines rechten Fusses tiefer in die weichen Bodendielen.
Unter dem Bett liegt reglos die Katze. Gustav lässt sie gewähren. Warum hinterfragt er ebenso wenig, wie er eine Antwort darauf zu geben weiß.
Gustav beherrscht sich. Krallt die Finger in die Zudecke und schließt die Augen.
Er befiehlt sich ruhig zu atmen. Fast als würde die Tante ihn mahnen.
Das Keuchen und Husten klingt in seinen Ohren wieder. Es heftet sich an seine Fersen, folgt ihm in seine Träume, breitet sich in seinem Inneren aus, bis er mit den Geräuschen aufgefüllt ist. Als sei er ein Gefäß, ein Schwamm, dem keine andere Wahl bleibt, als das Keuchen und Husten des Onkels aufzunehmen.
Gustav müht sich vergebens, Onkel Ewald keine Beachtung zu schenken. "Wechsel deinem Onkel den Halswickel." trägt die Tante ihm auf.
Gustav gehorcht und sehnt sich danach, das Tuch fester um Onkel Ewalds Hals zu drehen. So lange bis alle Luft aus dem Körper weicht und nichts übrig bleibt als eine geräuschlose Hülle.
In einer Nacht, die nicht überraschend kalt scheint, steht die Tante an Gustavs Bett. 
"Lass mich unter deine Decke." raunt sie.
Das Keuchen und Husten übertönt ihre Stimme fast. Gustav verschließt die Augen vor schlaffen Brüsten, dreht seinen Körper der Wand zu. 
Stunden türmen sich zu Tagen auf. Der Herbst schüttelt Äpfel von den Bäumen. 
Gustav befiehlt sich ruhig zu atmen, spürt die Haut der Tante auf seiner und stemmt die Ferse seines rechten Fußes in die Wand.
Onkel Ewalds Haut färbt sich noch vor dem Einbruch des Winters grau. Die Finger der Tante kriechen Gustavs Nacken herauf, legen sich um seinen Kopf, streicheln sein Haar.
"Halt still." weist ihn die Tante an. 
Gustav gehorcht und sehnt sich danach, das Kissen, auf dem der Kopf der Tante ruht auf ihr Gesicht zu drücken, bis ihre langen Finger erschlaffen und er nichts mehr spürt.
Das Gefühl der fremden Finger auf seiner Haut, in seinem Haar, über seinen Körper wandernd heftet sich an seine Fersen, folgt ihm in seine Träume, breitet sich in seinem Inneren aus, legt sich neben das Keuchen und Husten.
Gustav befiehlt sich ruhig zu atmen. Hinter Heuballen in der herunter gekommenen Scheune sitzt er, um der Tante und Onkel Ewald zu entfliehen. Die Katze hält Abstand, streckt sich zwischen den Heuballen aus und sieht Gustav nicht an.
Als Schneeflocken auf dem Feld schmelzen, fällt Gustavs Blick auf die alte Schaufel. Rostig steht sie in einer Ecke der Scheune. Winkt ihn zu sich heran.
Gustav umkreist vorsichtigen Schrittes das Werkzeug. Wiegt die Schaufel prüfend in den Händen. 

Sie erscheint ihm leicht. 
Auf dem Feld gräbt Gustav tiefe Furchen in den Boden, der sich vom letzten Frost befreit.
Die Tage werden länger; weniger selten scheint die Sonne in einem bestimmten Winkel auf den Hof. 
Gustav atmet ruhig. Onkel Ewald hustet in die Glut des Kaminfeuers. Die Tante rückt dichter an Gustav heran. Zu seinen Füßen sitzt beklommen das Versprechen der Freiheit.
Onkel Ewalds Kopf sinkt auf die Brust. Im Haus ist es eigentümlich still. 
Langsam dreht Gustav das Tuch um den Hals seines Onkels fester. Durch die Dunkelheit brechende Knochen lassen die Tante aufschrecken.
Einen Moment zu lang sitzt die Tante regungslos zu dicht neben Gustav. 
Das Kissen, veredelt mit feiner Stickerei, senkt sich auf ihr Gesicht. 
Die Glieder der Tante zucken, lange Finger verfangen sich in Gustavs Haar. Bis sie erschlaffen und das Kissen zu Boden fällt.
Die Stille, wie sie nur auf dem Land hörbar ist breitet sich über dem Hof aus. 
Gustav wickelt die leblose Tante und Onkel Ewald in frische Leinentücher.
"Nimm nicht das gute Tuch." hört er die Stimme der Tante und lächelt.
Die rostige Schaufel schüttet die Furchen fast selbstverständlich mit Erde auf. Gustavs Bewegungen fließen ineinander. Die Anstrengung bemerkt er nicht.
Als er nach getaner Arbeit auf dem Stuhl auf der Veranda mit den Beinen baumelt, fällt sein Blick auf die Katze. Gustav lächelt.
Die Katze ist stille Gesellschaft, die ihn nicht berührt. Deshalb jagt er sie nicht davon.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Die Tischgesellschaft

"Ich wüsste gern..." beginnt Mara einen Satz. Bertram aber hebt ohne Umschweife den Zeigefinger der rechten Hand in einer Mischung aus Drohgebärde und Warnung. 

Zur Gelegenheit einer abendlichen Einladung, wo sich ihre engsten Bekannten, denn für die Verbindlichkeit von Freundschaften fehlt ihnen die Zeit, in Anzügen und Cocktailkleidern um einen antik wirkenden, großflächigen Esstisch versammeln, sich der angenehmen Plauderei verschreiben, ist nicht die Zeit, etwas wissen zu wollen. 

Gewohnt den Gesten ihres Mannes Folge zu leisten, verschließt Mara gehorsam die überschminkten Lippen, bemüht das Glas mit längst schal gewordenem Champagner just dort anzusetzen, wo die Farbe ihres Lippenstiftes einen vorwitzigen Abdruck hinterlassen hat. Zur Seite blickend muss Mara feststellen, dass ihr Glas das einzige ist, welches sich weder hatte leeren lassen wollen und gleichsam von verschmierter Farbe gezeichnet ist.

"Komm, Liebes, ich nehme dir das ab." sagt Corinna eine Spur zu sanft, während sie dem eigens für diesen einen Abend angestellten Personal ein Wink gibt.
Eilig löst sich eine weiß-behemdete Gestalt aus dem Schatten, tauscht Maras Glas gegen ein vollständig jungfräuliches aus, in dem der Champagner Perlenfäden zieht. Mara erlaubt sich einen leisen Seufzer, während Corinna zufrieden ihre Glaceehandschuhe zurecht zupft. Unter dem glanzvollen Satin verbergen sich Narben, die Corinna sich sorgfältig selbst beibringt. 

"Trink, Liebes, bevor der Champagner wieder schal wird." sagt Corinna, während ihre behandschuten Finger sich zu fest in Maras Schulter graben; lacht ein glockenhelles Lachen als sie sich abwendet.
Über die abgenagten Knochen für den Verzehr gezüchteter Wachteln, breitet sich eine seichte Unterhaltung. 

Mara sieht den Perlen in ihrem Glas dabei zu, wie sie rhythmisch an die gold-kupfer schimmernde Oberfläche gleiten, bemüht nicht auf Bertrams Vortrag zur kommenden Kaltfront, die untypisch für diese Zeit des Jahres sei, zu achten und zugleich den stechenden Blick vom Kopfende des Tisches abzuwehren. 
Oliver reckt den Hals. 
"Was wüsstest du gern, Mara?" unterbricht seine Stimme Bertrams Vortrag über das Wetter.
Die Knochen der Wachteln ragen in die plötzliche Stille.

Olivers schmächtige Gestalt verschwimmt hinter einer Kerzenflamme, die über flüssiges Wachs tanzt. Bertrams Hände legen sich um die Kante des Tisches. Als wollten sie der ruhig ausgeführten Geste widersprechen, treten die Knöchel weiß hervor. 
Bertram schätzt es nicht, wird er unterbrochen. 

Sie kennen einander seit Jahren und verabscheuten sich auf Anhieb. Zwei Jungen, aus denen Männer wurden, die sich einen ausgewachsenen Faustkampf hätten liefern sollen. In aufgeschürften Knien und blutigen Lippen, geprellten Rippen und einer Platzwunde über dem linken Auge, wäre er geendet und mit ihm die Abscheu.
Jedoch waren sie keine Straßenkämpfer, sondern vermeintliche Schöngeister, die sich über abgenagten Knochen gezüchteter Wachteln, zwischen Kerzen und Champagner nicht einmal hassten, sondern schlicht bis in die letzte Zelle verachteten.

Sie hatten versucht voreinander zu fliehen, denn sich nur aus dem Wege zu gehen schien ihnen nicht angemessen. Bertram hatte über die zurückliegenden Jahre hinweg nicht selten mit dem Gedanken geliebäugelt, Olivers schmächtige Gestalt, die ein unproportionaler Kopf beinahe ins Lächerliche zog, zwischen jenen Händen zu zermalen, die sich jetzt in der Tischkante nahezu fest beißen.
Das Weiß der Knöchel spiegelt das  Kerzenlicht. Maras Schultern wollen in sich zusammenfallen wie gerade aufgekehrtes Laub.

Das feine Satin reibt an den Narben, schickt sich an zu knistern. Mit der Übung jahrelanger Unauffälligkeit schiebt Corinna ihren Stuhl auf einem Parkett zurück, das die Bewegung auffallend geräuschlos geschehen lässt.
Fast eilig lenkt Corinna ihre Schritte um den Tisch, streift Bertrams Schulter mit einer beruhigenden Geste.
"Es lohnt nicht." murmelt sie im Vorübergehen. Bertrams Hände geben einen Moment nach, scheinen alle Anspannung fahren zu lassen. Olivers Hals reckt sich noch immer verschwommen in dem Schein der Kerze. 
Corinna schenkt selbst Champagner nach. Ihre Augen ruhen unter halb geschlossenen Lidern auf einem Messer. Danach zu greifen wäre einfach. Den Handschuh müsste sie nur einige unbedeutende Zentimeter zurückschieben. Nur ein Schnitt. Einige Tropfen Blut, die sich leise auf dem Weiß des Tischtuchs niederlassen könnten. 
Statt ihres Blutes läuft Champagner über den Tisch.
Maras Schultern straffen sich.
"Ich wüsste gern", setzt sie erneut an, "warum wir unsere Zeit miteinander verschwenden."
In die andauernde Stille ragen die Knochen der Wachteln. 
Ein Glas geht zu Bruch. 
Mara gleitet von ihrem Stuhl. Den Blick auf die Scherben gerichtet. 
"Glück." sagt sie. "Scherben bringen Glück." 
Mit größter Sorgfalt legt sie eines der Glasstücke auf Corinnas Teller.
"Ihr solltet euch endlich prügeln." Ihre Finger wandern über Olivers gespannte Sehnen. 
Niemand sieht ihr nach, als sie den Raum verlässt.
"Ich bin es leid, Bertram." wirft sie über die Schulter zurück in die Stille einer Tischgesellschaft.

Dienstag, 20. September 2016

Edgar und Elena

Wir sitzen. Viel unspektakulärer als sonst. Nicht am Meer, wo sich der Spülsaum über den Sand ausdehnt, unsere Zehen erschreckt und sich dann schüchtern zurück zieht. 
Nicht im Baumhaus, das wir in einem Sommer zwischen den Ästen einer Birke errichteten und das uns als Versteck diente, wenn die Welt sich zu turbulent um ihre Achse drehte, sich Süd- und Nordpol miteinander stritten und aus dem Osten plötzlich der Westwind wehte. 

Wir sitzen. Seit Stunden. An einem Küchentisch, den wir an einer Straßenecke fanden und mitnahmen, weil jemand ein Schild darauf geklebt hatte. "Zu verschenken" stand in fleckigen Buchstaben darauf geschrieben. 
Wir mochten Geschenke, der Tisch war aus altem Holz und wir stellten uns vor, er hatte einer dieser Damen gehört, die ihre Haare in einem zarten Flieder färbten, unabsichtlich, und an jedem zweiten Sonntag im Monat zu Canasta und Portwein luden.
Wir wussten nicht, ob es irgendwo in der Nachbarschaft oder auf der Welt solche Damen gab, aber uns gefiel das Klischee.

Wir sitzen. Zwischen uns ein Kartenhaus. Du hast immer gefunden, Mikado sei ein langweiliges Spiel.
"Hölzchen, die nicht wackeln dürfen und dabei aussehen, als wären sie bestimmt gewesen Bäume zu sein." hast du gesagt und die Missbilligung schüttelte deinen Kopf bis in die Schultern.
Wir haben statt Hölzchen zu ziehen Kartenhäuser gebaut, die wir vor dem Einsturz bewahren wollten. Sachte hast du immer erst die Spitze abgenommen, eine Karte nach der anderen, bis nur noch das Fundament stand. 
Denn das sei das Wichtigste, hast du gesagt. Das Fundament. Auf dem etwas steht.
Tage haben wir damit verbracht, die Karten zu Häusern zu stapeln und abzutragen.
In den Nächten tranken wir Rotwein und sprachen über Nichts wie gleichzeitig Alles, denn du wolltest nicht zu behaupten aufhören, dass Wissenschaft dich ermüde und du von den schönen Künsten nichts verstündest.
Zwischen der abgelaufenen Zeit von damals und dem unbeschriebenen Heute kamst du mit einem Hund nach Hause. 
Er hieße Kopernikus und lege den Kopf stets linksseitig schief, kraulte man seine Ohren, sagtest du. 
Ich wollte erwidern, dass wir keinen Hund halten könnten, inmitten von Bücherstapeln und Kartenhäusern. Aber du hast nur lächelnd da gestanden und die Ohren des Tieres gekrault. 
"Schau doch." hast du gesagt und gelächelt. Kopernikus blieb.

Wir sitzen. Ohne aufzusehen. Das letzte Wort springt auf der Suche nach seinem eigenen Widerhall von über die Fugen der Kacheln, von denen du sagtest, sie seien der Grund, weswegen sich das Leben in unserer Wohnung lohnte. 
Kopernikus legt den Kopf linksseitig schief, währen deine schmalen Finger seine Ohren Kraulen. Du spielst schon lange keine Sinfonien mehr mit diesen Fingern, weil sie zu sehr zittern und sich zwischen den schwarzen wie weißen Tasten des Klaviers verlaufen.
"Heillos." pflegtest du zu sagen, wurdest du gefragt, warum du das Spielen aufgabst.
"Heillos verlaufen sich meine Finger zwischen den schwarzen und weißen Tasten des Klaviers." 

Den meisten Fragenden entgeht die Doppeldeutigkeit. Dich erschütterte das weit weniger, als ich es je verstand.
Du kamst mit bunten Cocktail-Schirmchen nach Hause und ließt sie sich über den Flur verteilen. 
Wenn du selbst nicht mehr tanzen könntest, fandest du, sollten es doch zumindest die Schirmchen in den Gläsern. Falls wir eines Tages eine Cocktail-Party geben wollten, seien wir nun vorbereitet, fügtest du an. Und ich sammelte die Schirmchen ein, dreht das bunte Papier in meinen Händen und erinnerte mich. 
Die Springbrunnen in den Gärten der Stadt spielten eine Melodie. Dein Kleid schwang in der Sommerluft als deine Schritte sich durch den Park bewegten. Man hatte uns eingeladen, neben vielen anderen Fremden, wir kannten uns nicht und waren keine Partygänger. Jemand warf ein Glas Gin um und die Eisskulptur begann zu schmelzen. Abseits stand ich in einer Gruppe, der schlecht sitzende Anzug ließ mich blass wirken. 
Man winkte dich heran. 
Die Vorstellung war knapp, begleitet von einer wenig aussagenden Geste, die eine zwischen unseren Oberkörpern schaukelnde Hand ausführte, die zu einem unserer gemeinsamen Freunde gehören mochte.
"Elena."
"Edgar."

Die Schwingung stellte sich ein und ich unternahm einen kläglichen Versuch, charmant sein zu wollen. 
Eine schlechte Angewohnheit, die du mich bald abzulegen lehrtest.
Mit einem Lächeln, was du mir nicht anrechnen wolltest, brachte ich heraus: "Fast wie Leonce und Lena." Ohne dabei auch nur halbwegs gebildet zu klingen. 
Dein Haar stellte sich im Nacken auf und das leuchtende gelb deines Kleides schluckte für einen Moment die applizierten blauen Punkte.
"Büchner gähnt mich an wie ein leerer Bogen Papier." gabst du mir zur Antwort und ohne Zweifel wusste ich, ich würde dich nie wieder verlassen.
Du aber drehtest dich herum, als wäre es unmöglich, dieses Gespräch zu einem höflichen Ende zu führen und schicktest mir zwei Tage später einen Gedichtband von Ringelnatz.

Wir sitzen. Spektakulärer als sonst. Am Ende einer Flasche Rotwein beginnt die Nacht. Der Tag im Park liegt ein halbes Leben zurück. Deine Finger verlaufen sich zwischen Kopernikus' Ohren.
Und das letzte Wort setzt sich sachte auf das Fundament eines Kartenhauses.
"Elena." hatte ich gesagt und deine heillos verlaufenen Finger gehalten. Kopernikus hält den Kopf linksseitig schief. Und du lächelst, weil in deinem Glas ein buntes Cocktail-Schirmchen für dich tanzt.