Montag, 9. Mai 2016

Da sitzt ein Junge auf dem Dach

Das Haus war einmal das höchste in der Straße, deren Gehwege vor einem halben Jahrhundert noch Pappeln säumten. Eine Allee, wie sie zwischen Feinstaub und Modernisierung verloren gegangen sind. Das Haus ist eingefasst. Von zwei Glasbauten neuzeitlicher, angepasst-eckiger Architektur. Leere Fensterfronten blicken auf abgesägte Baumstümpfe, während der laue Wind eines heraufziehenden Frühlingstages über den Asphalt streicht.

Auf dem Dach des einmal höchsten Hauses, das in sich zusammen gesunken zwischen den glasgebauten Fronten steht, sich um Würde bemüht, obwohl die Fassade sich nach einer Sanierung oder wenigstens einem neuen Anstrich sehnt, sitzt ein Junge. 

Das fuchsrote Haar zu einem Zopf gebunden, der bei jeder Bewegung viel lustiger wippt, als dem Jungen zumute ist, sitzt er da. Die Beine baumeln über rostige Reste einer Regenrinne. Mit den knochigen Fingern hält er sich an den Trägern seiner Latzhose fest, als würde er so nicht fallen können, beugte er sich nur einen weiteren unbedeutenden Zentimeter vor. 

Der Junge sitzt häufig auf dem Dach. 
Die wenigen Passanten, welche die stumme Straße entlang gehen, wobei der Junge empfindet, dass sie schleichen - hebt die Füße und richtet den Blick nach vorn, möchte er ihnen zurufen, dann aber würde er entdeckt - senken ihre Köpfe zwischen hochgezogenen Schultern auf den Gehweg hinab. 
Auf dem Dach sitzt der fuchsrotschopfige Junge und sieht ihnen aus verwundeten Augen nach.
Er denkt sich Geschichten aus.
Die kleine, runde Frau - dick mag der Junge sie nicht nennen, weil sie eben rund aussieht unter ihrem Mantel, der nicht zur Jahreszeit passen will - ist vielleicht Buchhalterin gewesen. Ihre Haare sind grau und im Nacken zu einem Knoten geschlungen, der viel eher die Vermutung herauf beschwören will, sie säße seit sie lesen kann in einer Bibliothek. Das aber ist dem Jungen auf dem Dach zu sehr ein abgegriffenes Klischee. Also denkt er, sie war Buchhalterin. Die Brille auf der Stubsnase will vorwitzig herunter rutschen und die kleine, runde Frau schiebt sie unwirsch zurück an ihren Platz auf der Nasenwurzel. 
Die Brille muss sie tragen, malt der Junge auf dem Dach sich aus, weil die jahre- sogar jahrzehntelang kleine Zahlen in Spalten eingetragen hat und dabei stets die Augen so sehr zusammenkniff, dass ihre Sehkraft zwischen den Spalten und den Zahlen einfach so verloren gegangen ist. 

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht eine hagere Gestalt, grau gekleidet, das Gesicht aschfahl, den Hut nur ein wenig zu tief in die Stirn gezogen. 
Der Junge auf dem Dach spannt unwillkürlich jeden Muskel an. Ohne Umstände stellt der fuchsrote Zopf das lustige Wippen ein. Die Zeit steht still, bevor sie rauschend durch den Rinnstein fließt, die hagere Gestalt sich in Bewegung setzt. Lange Schritte überqueren die Straße. Drei, zwei, eins und die hagere Gestalt steht vor dem einstmals höchsten Haus, hebt den Kopf in einer bedrohlich steifen Bewegung.
Der Junge auf dem Dach zieht die baumelnden Beine zurück, streift unabsichtlich die rostigen Reste der Regenrinne.
Die hagere Gestalt ruft etwas, der fuchsrotschopfige Junge verschließt seine Ohren und kriecht hinter den brüchigen Schornstein. 
Der Mörtel zwischen den Klinkersteinen will kaum noch in den Fugen halten und so hält sich der Junge weiter an den Trägern seiner Latzhose fest, anstatt den Schornstein zu umklammern, auch wenn es rutschig ist auf dem Dachgiebel. 
Die hagere Gestalt reckt den reckt den Kopf noch ein bisschen höher, stellt sich auf die Zehenspitzen, die in blank geputzten Schuhen stecken.
Der Junge duckt sich. Jetzt sitzt er mit seinem fuchsroten Zopf, der gar nicht mehr lustig wippt auf dem Dach fest und da unten droht ihm die hagere Gestalt mit der geballten Faust. 

Der Junge kennt das Spiel, das den immer gleichen Regeln folgt.
Die hagere Gestalt, zu der sich der Junge keine Geschichte ausdenken muss, ist Heimleiter von Beruf. 
Auf der anderen Seite der Stadt steht das Heim hinter dicken Mauern, die mit Stacheldraht verziert sind, das die hagere Gestalt leitet. Der Junge bewohnt dort ein Zimmer im ersten Stock, in dem es nach Schimmel riecht und an dessen Wände sich Stockflecken bilden, die der Junge mit einem schwarzen Filzstift umrandet hat. 

Der Heimleiter zückt sein Telefon. Gleich werden sie da sein. Die Polizei. Ein Feuerwehrwagen und vielleicht auch die Sanitäter.
Sie werden ihn vom Dach pflücken, so wie sie jeden Monat mindestens zweimal tun. Er wird in die Verantwortung des Heimleiters überstellt werden und nach der Rückkehr ins Heim wird der Heimleiter persönlich, weil es ihm Freude macht, ihm mit dem alten Rohrstock eine Lektion erteilen.
Der Heimleiter nennt die Prügel Lektion. Der Junge wird in seinem Zimmer sitzen, aus dem Fenster starren, zwischen den Gitterstäben hindurch und wieder ausreißen. Vielleicht nicht schon morgen. Vielleicht auch nicht übermorgen. 
Aber in einer Zukunft, die nicht allzu fern ist.
Er wird durch die Straßen laufen an das andere Ende der Stadt bis er vor dem einst höchsten Haus steht, dessen Fassade so sehnlich auf eine Sanierung oder wenigstens einen Anstrich wartet. 
Er wird sich leise hinein schleichen, auf das Dach klettern, seine Beine über die rostigen Reste der Regenrinne baumeln lassen und sein fuchsroter Zopf wird viel lustiger wippen, als ihm zumute ist.
Er wird aus verwundeten Augen auf die Welt und die Menschen sehen, bis sie ihn wieder vom Dach klauben oder der Schornstein samt des brüchigen Mörtels, die Klinker und das Haus in sich zusammen fallen. Kein Rohrstock, keine Lektion, nichts wird den Jungen davon abhalten auf dem Dach zu sitzen, so lange es das Dach noch gibt. Denn nur auf diesem Dach, das einst das höchste in einer von Pappeln gesäumten Straße war, ist der Junge was er sein möchte: frei.