Dienstag, 23. Mai 2017

Das Glück sitzt im Einkaufswagen

Leopold sieht aus grünen Augen auf die Welt. Ihr Farbe wechselt je nach Richtung des Windes. Heute schimmern sie in diesem Ton, welchen eingelegte Oliven annehmen. 
"Da ist Pfand drauf!" sagt Leopold und schiebt den Einkaufswagen an dem behäbigen Parkplatzwächter vorbei. 
Niemand hält ihn auf. Nicht einmal Anstalten machen sie.
"Das liegt daran, dass in meinem Namen das Wort "Löwe" steckt", hat Leopold Hannah einmal erklärt, als sie auf einer Wiese Gänseblümchen mit den Zehen ausreißen.

Hannahs linke Augenbraue hebt sich damals bis unter den Pony, aber Leopold wischt ihr den Zweifel aus dem Gesicht, wie er den Tau von einem Blatt streifen würde. 
Der Einkaufswagen knattert über den warmen Asphalt. 
"Und jetzt?" fragt Hannah. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie den ganzen Tag den Einkaufswagen durch die Straßen schieben. 
"Wir gehen ins Museum." sagt Leopold und klingt dabei, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, als gäbe es keine andere Möglichkeit, als verstünde er die Frage nicht.
Er hat immer einen Plan. Hannah kennt ihn seit fünf Jahren; sie sollte wissen, dass er immer einen Plan hat.

Das sonore Grundrauschen der Welt sei über ihrem Kopf zusammengeschlagen und es habe ihr Lachen verschluckt, hatte Hannah vor wenigen Stunden gesagt.
Also nimmt Leopold seinen olivegrünen Blick auf die Welt, einen Euro in die linke und Hannah an die rechte Hand, um einen Einkaufswagen zu leihen. Er wird ihn zurück bringen, wenn der Tag vorüber ist. 
"Steig ein." sagt er. 
Hannah schüttelt ihr kurzes Haar. "Kommt ja gar nicht in die Tüte!" 
Leopold ist heute nicht in der Stimmung zu verhandeln. 
"Steig ein." sagt er.
Hannah verzieht das Gesicht. Sie kennt diesen Nachdruck. "In deinem Namen steckt das Wort "Löwe", ich weiß schon." murmelt sie und steigt in den Einkaufswagen.

Durch ihr Gewicht bewegt sich der Wagen weniger geräuschvoll über die Gehwege und Kreuzungen.
"Wir haben die Stille verlernt." sagt Hannah und durchsucht ihre Tasche, als erwarte sie dort Schweigen zu finden.
"Stille ist das letzte, was du jetzt brauchst." 
Leopold schiebt den Wagen mit gleichmäßigen Schritten durch die Stadt, an den Sirenen und Gesprächen, den tickenden Ampeln und bellenden Hunden vorbei. 
Er stört sich nicht an den Gesichtern der Menschen. Er bemerkt nicht, dass sie ihre Telefone zücken, ihn und Hannah unter die Schutzfolien der Displays bannen. 
Leopold schiebt den Einkaufswagen über den warmen Asphalt und summt. 
"Jetzt fang nicht auch noch an zu singen." quengelt Hannah, ohne sich umzudrehen.
"Ich summe." stellt Leopold fest, ohne sich nachhaltig stören zu lassen.

Zum Eingang des Museums führt eine imposante Treppe, die zu besonderen Gelegenheiten ein Teppich von schlichtem Grau ziert. Die Stadtväter legen Wert auf elegante Bescheidenheit.
"Wir nehmen die Rampe." sagt Leopold, um Hannahs nicht gestellte Frage zu beantworten.
"Die lassen uns doch da nie rein." Hannah fehlt es an grundsätzlichem Vertrauen.

Leopold stemmt seinen schmalen Körper gegen den Einkaufswagen. Langsam nähern sie sich dem Ende der Rampe. 
"Ehrlich, du willst doch da jetzt nicht wirklich rein?!" Die Nervosität sitzt auf Hannahs Schultern und gackert. 
"Doch." Mehr sagt er nicht. Stattdessen atmet er tief ein. Er nimmt Anlauf. Die Schiebetüren des Museums gleiten auseinander. Der Einkaufswagen rauscht an dem Pförtner und seinem tonlos geöffneten Mund vorbei.

Leopold schließt seine Hände fester um den Griff, als Hannah die Arme in den Sog der aufgewirbelten Museumsluft wirft. 
Er steuert den Wagen um die Säulen herum, an der aufdringlichen Kunst des venzianischen Barock vorbei. 
Das Lachen jagt durch Hannahs Herzkreislaufsystem.
Der Pförtner schlittert über den glatten Boden und Leopold weiß, er muss an dem Versuch scheitern, ihn am Kragen zu packen. 
Hannahs Lachen füllt die Halle, als sie die letzte scharfe Kurve nehmen.
Fast fliegt der Einkaufswagen durch die auseinander gleitenden Schiebetüren, die Rampe hinunter. Der Pförtner bleibt schnaufend auf der obersten Stufe der Treppe stehen, unwillkürlich lächelt er.

"Noch mal!" schreit Hannah in den Vorabend, die Arme in die Luft gereckt, als wollte sie sich daran festhalten.
Das sonore Grundrauschen weicht, als Leopold den Einkaufswagen zurück über die Gehwege und Kreuzungen und den warmen Asphalt schiebt. 
Und in seinem olivgrünen Blick auf die Welt schimmert Hannahs Gesicht glücklich.