Dienstag, 15. März 2016

Das Mietshaus


Das Gebäude, von außen betrachtet so grau, dass es fast farblos wirkt, ist zu jung für eine denkmalgeschützte Geschichte, steht still an einer Straßenecke im falschen Viertel.
Zwischen Ampelphasen fegt der Verkehrslärm an den schallisolierten Fenstern vorbei; städtische Ruhelosigkeit umspült die Fassade der 10 Stockwerke.
„Und dann liegst du da im Staub grau-schwarz getünchter Straßen und holst dir am wirklichkeitsnahen Asphalt eine blutige Nase.“ Sagt Merle, trinkt einen zu großen Schluck aus einem Rotweinglas, das einmal ihrer Großmutter gehörte und einen Goldrand hatte. Mit der freien Hand streicht Merle sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht hinter das linke Ohr; sitzt mit angezogenen Beinen auf einem unbequemen Küchenstuhl.
Auf ihrem Gesicht liegen Schatten, kleine und große. Für manche trägt die Deckenlampe die Verantwortung. Für andere eine Vergangenheit, die Merle weder verschweigt noch austritt.
Die Rotweinflasche zeichnet einen schmalen Ring auf den vor Stunden geöffneten, unaufmerksam überflogenen Brief. Die Kerzen auf dem Tisch zündet Merle nie an.
„Ich bin doch keine Bildunterschrift. ‚Frau trinkt Rotwein bei Kerzenschein‘ sieht aus wie ein Klischee, das auf Leinwand gebannt das barocke Zeitalter überdauert hat.“ Sagt Merle, lacht ihr kehliges Lachen, das immer ein bisschen danach klingt, als würde sie zu husten beginnen, schiebt das ehemals goldrandige Rotweinglas schräg über den Küchentisch, der kein Erbstück ist.
Die angezogenen Beine stecken in Pluderhosen, die weder von einer Reise nach Indien stammen noch selbst genäht sind.
„Ware von der Stange. Nicht mal bio oder fair trade.“ Sagt Merle, die ihre 28 Lebensjahre innerhalb der Stadtgrenzen und in weiten Teilen im 5. Stock des farblos grauen Gebäudes, das jetzt plötzlich im falschen Viertel steht, zugebracht hat. Sie zuckt mit den Schultern, als wäre ihr alles abgesehen von der Bequemlichkeit gleichgültig, blickt herausfordernd über den Rand des Rotweins.
Die grau-braunen Augen, weich gepolstert von einem Ring aus haarfeinen Falten, blinzeln zwei oder dreimal; die Lust an einer Streiterei verfliegt. Mit einer ungestümen Bewegung stößt Merle den unbequemen Stuhl zurück. Der unaufmerksam gelesene Brief hebt sich unauffällig halbseitig von der Tischplatte. Ihr Glas leerend steht Merle auf und nach einem weiten Schritt in bunten Pluderhosen am Fenster. Als gäbe es für sie nichts mehr zu tun, richtet sie ihre in Falten gelegten Augen auf die Verkehrsadern, die 5 Stockwerke unter ihr liegen.
„Und dann liegst du da im Staub grau-schwarz getünchter Straßen, holst dir am wirklichkeitsnahen Asphalt eine blutige Nase.“ Sagt Merle, presst alle zehn Finger an gegen die kühle Fensterscheibe, auf deren Außenseite vom Regen aufgetragener Schmutz zu einem Muster wird.
Karl hebt die niedergeschlagenen Lider, ruht seinen Blick auf ihrer Gestalt aus.
„Großstadtromantik.“ Sagt Merle und Karl ist sich nicht sicher, ob sie mit der Fensterscheibe spricht, aus dem Blick ihrer grau-braunen Augen verloren hat, dass er dort sitzt; in einem zweiten unbequemen Küchenstuhl, unter einer Deckenlampe, die Schatten wirft.
„Das Muster ist immer gleich. Großstadtromantik gibt es nicht. Zwischen dem Beton halten wir Verkehrsinseln für Grünflächen. Wir geben Sternen Nummern und verzählen uns im diffusen Licht der Dämmerung; reihen verlogenen, ungehaltene Versprechen aneinander. Denkst du nicht auch?“ sagt Merle, löst ihre Finger von der Fensterscheibe, zerknüllt den raschelnden Brief, als verlören die Worte damit ihre Gültigkeit.
Zwischen den Rotweingläsern und der Fensterscheibe denkt Karl nicht. Karl fühlt.
Das Gefühl balanciert über ein Drahtseil. Bemüht sieht Karl nicht nach unten. Jedes Mal, wenn Merle in ihren bunten Pluderhosen eine Flasche Rotwein öffnet, spürt Karl den freien Fall, der an seinem Innersten zieht. Einen Arm auf den Tisch gestützt, die Hand in dichtes schwarz-blasses Haar vergraben, sitzt Karl unter den Schatten der Deckenlampe und neben seinem Gefühl.
„Du bist mein bester Freund.“ Sagt Merle, ihre Finger greifen nach Karls Arm. Karl sieht nach unten. Fällt. Schlägt sich die Nase auf wirklichkeitsnahem Asphalt blutig.
„Ich will hier nicht weg.“ Sagt Merle.
Als gäbe es für ihn nichts weiter zu tun, beobachtet Karl die Maserung der Tischplatte.
„Ich bin dein Ersatzmensch.“ Antwortet sein tonlos geöffneter Mund.
Karl fühlt, wie die Zeit rückwärts die hölzerne Maserung entlang läuft, bis zu jenem Apriltag vor sieben Jahren, an dem das Wetter keine Kapriolen schlug, er seine Fingerspitzen sachte auf den Handlauf des Geländers legte, die Treppen zum sechsten Stock hinaufstieg.
Nie hatte er im sechsten Stock wohnen wollen. Dort, wo heute hinter der Wohnungstür die für seine Gesellenprüfung angefertigte Kommode jedem der seltenen Besucher den Weg durch einen zu schmalen Flur annährend versperrte und auf die er nur Stunden zuvor den sorgfältig gelesenen Brief, selben Inhalts wie das zerknüllte Papier auf Merles Küchentisch, abgelegt hatte. Die Angst vor Höhe griff jeden Tag nach seinem Innersten. Er spürte es fallen; durch das Treppenhaus. Über den Handlauf sah Karl niemals hinaus. Auch nicht hinunter. Nicht an jenem Tag im April und auch eine keinem anderen Tag der folgenden Jahre.
Damals versank Karl zwischen dem dritten und dem vierten Stock vollständig in dem Gedanken, keinesfalls den Blick in die Tiefe zu richten. Die Anstrengung überzog sein schmales Gesicht, auf dem selten ein nahezu spitzbübisches Lächeln liegt, mit einem salzig-zarten Film.
Der Apriltag liegt in fast vergessener Ferne. Das Gefühl, welches Karl zwischen dem dritten und dem vierten Stock auf den Rücken sprang, sich fortan bis heute huckepack durch sein Leben tragen ließ, sitzt neben ihm.
Es hält seine klammen Finger. Seit dieser Zehntelsekunde, da Merle mit ihm zusammenstieß. Karl war kaum in Versuchung geraten, ihm zu entfliehen. Nicht ein Mal in den vergangenen sieben Jahren. Er ruhte seine niedergeschlagenen Lieder auf Merles Gestalt aus, raufte das schwarz-blasse Haar, hoffte hinter einer Mauer ungesagter Worte, sie möge ihn endlich erkennen.
Das Gefühl wuchtet ihn aus dem unbequemen Küchenstuhl. Es hat genug.
„Wenn wir in sechs Wochen ausziehen müssen, das Gebäude in Schutt und Asche liegt, tun wir es auch. Ich kann nicht mehr dein Ersatzmensch sein.“ Sagt Karl und flieht.
Das Licht im Treppenhaus surrt kalt über Linoleum und fleckige Wände. Karl sieht befreit über den Handlauf des Geländers hinaus. Und hinunter.
Im Erdgeschoss spannt sich fahle Haut unter Altersflecken, als Ursula die Geranien auf der zweigeteilten Fensterbank gießt. Die Kunstfasern eines abgenutzten Teppichs klingen nach der Erinnerung an Schuberts 8. Sinfonie, die Unvollendete; über die Raufasertapete läuft der Duft verkochter Kürbissuppe.
Ursula zählt Blütenblätter. Auf der Vitrine, hinter deren Türen sich das Feiertagsgeschirr versteckt, stehen sorgsam aufgereiht gerahmte Gesichter, die Ursula nicht mehr täglich erkennt. Fahrig stauben ihre Hände jeden Sonntag die Rahmen und zuweilen Fremden ab; hält bemüht Ordnung in einer ungeordneten Welt.
Das Schloss knackt leise, als Victor den Schlüssel dreht. Mit behutsamen Schritten wappnet er sich, als er in die Leere des Flurs eintritt. Ursula steht regungslos vor der zweigeteilten Fensterbank, zählt Blütenblätter.
Victor nimmt die randlose Brille von der schmalen Nase, deren rechter Flügel eine Narbe aus Kindertagen ziert.
Peinlich darauf bedacht, die Geräuschlosigkeit nicht zu unterbrechen, folgt Victor einem eingebrannten Ritual, steuert auf die kleine Küche zu, schaltet den Herd ab, spürt dem Zorn nach, der sich in seinem Magen zu einem festen Knoten verschlingt.
Vor den ausgezählten Büttenblättern steht seine Mutter, hilflos zucken eingefallenen Schultern, als ihre Augen zwischen dem eingerahmten Victor auf der Vitrine und dem erwachsenen Mann im Rahmen der Wohnzimmertür hin und her springen.
Victor erkennt die Ratlosigkeit, bevor sie sich über die abgenutzten Teppichfasern breitet, nimmt die Antwort auf eine Frage und die panische Angst einer gealterten Frau vorweg, die heute nichts mit seiner Mutter, einer schönen Pianistin, gemein hat.
„Dein Sohn, Mutter, ich bin dein Sohn.“ Versucht sich seine Stimme in vertrauensvoller Ruhe. Der vernarbte Flügel seiner schmalen Nase zittert.
Ursula öffnet in quälender Geschwindigkeit die Fäuste, streicht den flecken-durchsetzten Wollrock glatt. Die Erinnerung schlägt scharfkantig Blitze in den wolkenverhangenen Geist.
„Setzen wir uns einen Moment.“ Sagt Victor, ein geöffneter Umschlag knistert zustimmend in seinen Händen.
Ursula bleibt unschlüssig bewegungslos.
„Wenn Besuch kommt, serviert man Kaffee. Ist es schon zu spät für Kaffee, Junge?“ flüstert ihre Stimme, brüchig wie zu lang gelagertes Brennholz.
Victors Nackenhaare verschränken sich ineinander.
„Setz dich zu mir, Mutter.“ Sagt Victor, die Augen bestimmt auf den Brief gerichtet. Die klaren Buchstaben läuten fett gedruckt das Ende ein. Die Rücksichtslosigkeit gewinnt sachlich die Oberhand.
„Sie werden das Haus abreißen, Mutter. Du wirst eine Weile bei uns wohnen, bis wir einen Heimplatz gefunden haben.“ Sagt Victor, ohne den kurzsichtigen Blick von dem Papier zu heben. Ursula schüttelt stumm den Kopf. Die fahlen Hände ziehen Linien zwischen eingetrockneten Haferflecken auf dem Wollstoff über den Knien.
Schweigend sitzen sie unberührt nebeneinander.
„Ich kann hier nicht weg.“ Sagt Ursula.
Victors Haltung duldet keinen Widerspruch.
„Die Geranien nehme ich mit.“ Sagt Ursula und Victor ist sich nicht sicher, ob sie mit den Kunstfasern des abgenutzten Teppichs spricht, aus ihrer Erinnerung verloren hat, dass er dort sitzt.
In die Erinnerung an Schuberts 8. Sinfonie, die Unvollendete, mischt sich der Duft verkochter Kürbissuppe. Über den losen Rand seiner Brille streift Victors Blick die unter Altersflecken gespannte fahle Haut, zwingt er sich zu einem müden Nicken.
Die Tage vergehen zwischen in Zeitung gewickeltem Porzellan im Wochentakt.
Hinter der Fassade, so grau, dass sie fast farblos wirkt, verstauen sich Lebensgeschichten und Erinnerungen als Füllmaterial in Bücherkisten.
Zwischen Ampelphasen fegt der Verkehrslärm an den schallisolierten Fenstern vorbei, deren Vorhänge längst abgehangen sind, die lichtlos bleiben.
Das Gebäude löst sich beharrlich langsam auf. Den Gedanken an Protest hat es sich nicht zu denken erlaubt.

Still steht sein aufgegebener Schatten an der Straßenecke, treibt der Wind verdrängte Blütenblätter ausgezählter Geranien über den grau-schwarzen Asphalt im falschen Viertel.