Donnerstag, 27. Oktober 2016

Gustavs Katze

Wenn Gustav auf einem Stuhl sitzt, baumelt er mit den Beinen. Erst schwingt er mit dem rechten, dann mit dem linken Bein. Immer im Wechsel und nie andersherum.
Gustav ist Linkshänder, was daran liegt, dass seiner rechten Hand der Daumen fehlt. Der ist im Herbst 1953 versehentlich in den Häcksler seines Onkels Ewald geraten. Gustav blutet und schreit, aber den Daumen ist er los. Endgültig.
"Sei vorsichtig." hat seine Tante gemahnt. "Geh da nicht so dicht heran, Junge." hat sie gerufen. Und später gesagt: "Das hast du jetzt davon."
Als Gustav seinen Daumen verliert, ist er vier Jahre alt und ungefähr 105 Zentimeter groß. 
Gustav sitzt auf einem Stuhl, der ein bisschen knarrt und baumelt mit den Beinen.
Es kann vorkommen, dass sein linkes Bein etwas zu vorwitzig schwingt und er die gerade vorbei schleichende Katze erwischt.
Die Katze ist dick, weswegen sie eine ungünstig kurze Flugbahn beschreibt.
Sie landet auch nicht auf ihren Pfoten, obwohl es von Katzen heißt, das würden sie stets. Auf ihren Pfoten landen.
Gustav hält sich weder für einen Tierquäler noch für einen netten Menschen.
Er ist schlicht Gustav, dem der Daumen der rechten Hand fehlt und den seine Klassenkameraden dereinst "Stummel" riefen.
Wirklich bedauert hat Gustav den Verlust seines Daumens nie. Wie es sich anfühlt mit zehn Fingern durchs Leben zu gehen, daran erinnert sich Gustav nicht mehr.
Die dicke Katze sträubt beleidigt ihr Fell.
Manchmal, wenn sie in der Hofeinfahrt liegt und die Sonne in einem bestimmten Winkel steht, glänzt das Fell der Katze als sei es aus Seide gemacht.
Gustav streichelt die Katze nie. Er will nicht so weit gehen, zu sagen, dass er Katzen im Allgemeinen nicht mag. Oder ein Hundemensch ist.
Er ist ein Mensch, der diese eine Katze nicht mag. Deshalb nimmt er den Schwung seiner baumelnden Beine nicht zurück und der Katze übel, dass sie weder weit genug fliegt, noch besonders elegant landet.
Die Katze erfüllt seine Erwartungen nicht. 
Er wird sie nicht los. Seine Erwartungen genauso wenig wie das dicke Tier.
Wann die Katze einzog, weiß Gustav nicht mehr. Plötzlich war sie da. An einem Tag, als die Sonne nicht in einem bestimmten Winkel stand oder schien, lag sie in der Hofeinfahrt.
Unelegant und dick. Das nimmt Gustav übel. Von Beginn an. Er stellt ihr eine Schale mit Wasser auf die unterste Stufe der Treppe, die zum Haus führt.
Die Katze soll nicht denken, sie könnte es gut bei ihm haben. Deshalb bekommt sie keine Milch. 
Die Katze schert das nicht; eine Schale mit Wasser reicht ihr aus. Sie setzt ihre Pfoten auf der untersten Treppenstufe auf und blickt über den Rand der Schale zu Gustav hinauf. 
Gustav sitzt auf einem Stuhl, schwingt mit den Beinen und sieht auf die Katze hinunter. 
Die vier Finger seiner rechten Hand trommeln auf der Stuhllehne. Ein arhythmisches Geräusch. Die Katze wuchtet ihren dicken Bauch unbeirrt Stufe um Stufe die Treppe hinauf. 
Gustav stößt den Stuhl zurück, richtet sich zu seiner vollen Größe auf.
183 cm werfen einen Schatten über die Veranda, die Treppe hinunter, in den Hof. 
Die Katze verharrt auf der dritten Treppenstufe. Gustavs Arme beginnen zu rudern, um das Tier zu verscheuchen. Es bleibt bei dem Versuch. 
Der Tag, an dem Gustav rudernd auf der Veranda steht, ist der Tag, an dem die Katze einzieht. 
Die Katze hat sich seit dem nicht verändert. Ihr Fell glänzt in der Sonne, als sei es aus Seide gemacht. Sie hat weder an Gewicht gewonnen, noch ist sie schmaler geworden.
Wenn Gustavs schwingende Beine sie in die Luft befördern, beschreibt ihr Körper eine zu kurze Flugbahn und die Landung ist stets unelegant.
Gustav rechnet der Katze das an. Veränderungen kommen Gustav ungelegen. 
Als ein Brand zwischen 1973 und heute einen Teil des Hauses zerstört, verändert sich alles. 
Der Wandel tritt nicht plötzlich ein. Das Feuer wird gelöscht, das Haus Instand gesetzt. Der Brandgeruch verfliegt, die Teppiche werden erneuert. Nur fünf kurze Wochen nach dem wütenden Feuer fühlt Gustav sich unversehrt und gewöhnlich. 
Der Staub legt sich mit der Aufregung. Die Tage vergehen zwischen Feldarbeit und Alltäglichem. 
Gustav sitzt auf einem Stuhl und schwingt mit den Beinen.
Onkel Ewald hustet im hinteren Teil des Hauses in einen Suppentopf. Die Tante mahnt: "Sitz grade."
Gustav verkennt den Sinn der Mahnung, stört sich an dem Röcheln seines Onkels.
Onkel Ewald hustet nicht nur tagsüber in den Suppentopf. Auch des Nächtens spuckt seine Lunge rasselnd in die über dem Hof ausgebreitete Stille. Diese Stille, wie sie nur auf dem Land hörbar ist. Weit entfernt von lärmenden Großstädtern, die für nichts weiter Augen haben als ihr Spiegelbild im nächsten Schaufenster einer aufpolierten Einkaufsstraße. 
Gustav liegt in seinem Bett, das rechte Bein steht auf den Holzdielen seiner Stube, und sieht nichts in der Dunkelheit. Er lauscht auf das unregelmäßige Keuchen, das über den Flur kriecht.
Mit jedem Husten bohrt sich die Ferse seines rechten Fusses tiefer in die weichen Bodendielen.
Unter dem Bett liegt reglos die Katze. Gustav lässt sie gewähren. Warum hinterfragt er ebenso wenig, wie er eine Antwort darauf zu geben weiß.
Gustav beherrscht sich. Krallt die Finger in die Zudecke und schließt die Augen.
Er befiehlt sich ruhig zu atmen. Fast als würde die Tante ihn mahnen.
Das Keuchen und Husten klingt in seinen Ohren wieder. Es heftet sich an seine Fersen, folgt ihm in seine Träume, breitet sich in seinem Inneren aus, bis er mit den Geräuschen aufgefüllt ist. Als sei er ein Gefäß, ein Schwamm, dem keine andere Wahl bleibt, als das Keuchen und Husten des Onkels aufzunehmen.
Gustav müht sich vergebens, Onkel Ewald keine Beachtung zu schenken. "Wechsel deinem Onkel den Halswickel." trägt die Tante ihm auf.
Gustav gehorcht und sehnt sich danach, das Tuch fester um Onkel Ewalds Hals zu drehen. So lange bis alle Luft aus dem Körper weicht und nichts übrig bleibt als eine geräuschlose Hülle.
In einer Nacht, die nicht überraschend kalt scheint, steht die Tante an Gustavs Bett. 
"Lass mich unter deine Decke." raunt sie.
Das Keuchen und Husten übertönt ihre Stimme fast. Gustav verschließt die Augen vor schlaffen Brüsten, dreht seinen Körper der Wand zu. 
Stunden türmen sich zu Tagen auf. Der Herbst schüttelt Äpfel von den Bäumen. 
Gustav befiehlt sich ruhig zu atmen, spürt die Haut der Tante auf seiner und stemmt die Ferse seines rechten Fußes in die Wand.
Onkel Ewalds Haut färbt sich noch vor dem Einbruch des Winters grau. Die Finger der Tante kriechen Gustavs Nacken herauf, legen sich um seinen Kopf, streicheln sein Haar.
"Halt still." weist ihn die Tante an. 
Gustav gehorcht und sehnt sich danach, das Kissen, auf dem der Kopf der Tante ruht auf ihr Gesicht zu drücken, bis ihre langen Finger erschlaffen und er nichts mehr spürt.
Das Gefühl der fremden Finger auf seiner Haut, in seinem Haar, über seinen Körper wandernd heftet sich an seine Fersen, folgt ihm in seine Träume, breitet sich in seinem Inneren aus, legt sich neben das Keuchen und Husten.
Gustav befiehlt sich ruhig zu atmen. Hinter Heuballen in der herunter gekommenen Scheune sitzt er, um der Tante und Onkel Ewald zu entfliehen. Die Katze hält Abstand, streckt sich zwischen den Heuballen aus und sieht Gustav nicht an.
Als Schneeflocken auf dem Feld schmelzen, fällt Gustavs Blick auf die alte Schaufel. Rostig steht sie in einer Ecke der Scheune. Winkt ihn zu sich heran.
Gustav umkreist vorsichtigen Schrittes das Werkzeug. Wiegt die Schaufel prüfend in den Händen. 

Sie erscheint ihm leicht. 
Auf dem Feld gräbt Gustav tiefe Furchen in den Boden, der sich vom letzten Frost befreit.
Die Tage werden länger; weniger selten scheint die Sonne in einem bestimmten Winkel auf den Hof. 
Gustav atmet ruhig. Onkel Ewald hustet in die Glut des Kaminfeuers. Die Tante rückt dichter an Gustav heran. Zu seinen Füßen sitzt beklommen das Versprechen der Freiheit.
Onkel Ewalds Kopf sinkt auf die Brust. Im Haus ist es eigentümlich still. 
Langsam dreht Gustav das Tuch um den Hals seines Onkels fester. Durch die Dunkelheit brechende Knochen lassen die Tante aufschrecken.
Einen Moment zu lang sitzt die Tante regungslos zu dicht neben Gustav. 
Das Kissen, veredelt mit feiner Stickerei, senkt sich auf ihr Gesicht. 
Die Glieder der Tante zucken, lange Finger verfangen sich in Gustavs Haar. Bis sie erschlaffen und das Kissen zu Boden fällt.
Die Stille, wie sie nur auf dem Land hörbar ist breitet sich über dem Hof aus. 
Gustav wickelt die leblose Tante und Onkel Ewald in frische Leinentücher.
"Nimm nicht das gute Tuch." hört er die Stimme der Tante und lächelt.
Die rostige Schaufel schüttet die Furchen fast selbstverständlich mit Erde auf. Gustavs Bewegungen fließen ineinander. Die Anstrengung bemerkt er nicht.
Als er nach getaner Arbeit auf dem Stuhl auf der Veranda mit den Beinen baumelt, fällt sein Blick auf die Katze. Gustav lächelt.
Die Katze ist stille Gesellschaft, die ihn nicht berührt. Deshalb jagt er sie nicht davon.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Die Tischgesellschaft

"Ich wüsste gern..." beginnt Mara einen Satz. Bertram aber hebt ohne Umschweife den Zeigefinger der rechten Hand in einer Mischung aus Drohgebärde und Warnung. 

Zur Gelegenheit einer abendlichen Einladung, wo sich ihre engsten Bekannten, denn für die Verbindlichkeit von Freundschaften fehlt ihnen die Zeit, in Anzügen und Cocktailkleidern um einen antik wirkenden, großflächigen Esstisch versammeln, sich der angenehmen Plauderei verschreiben, ist nicht die Zeit, etwas wissen zu wollen. 

Gewohnt den Gesten ihres Mannes Folge zu leisten, verschließt Mara gehorsam die überschminkten Lippen, bemüht das Glas mit längst schal gewordenem Champagner just dort anzusetzen, wo die Farbe ihres Lippenstiftes einen vorwitzigen Abdruck hinterlassen hat. Zur Seite blickend muss Mara feststellen, dass ihr Glas das einzige ist, welches sich weder hatte leeren lassen wollen und gleichsam von verschmierter Farbe gezeichnet ist.

"Komm, Liebes, ich nehme dir das ab." sagt Corinna eine Spur zu sanft, während sie dem eigens für diesen einen Abend angestellten Personal ein Wink gibt.
Eilig löst sich eine weiß-behemdete Gestalt aus dem Schatten, tauscht Maras Glas gegen ein vollständig jungfräuliches aus, in dem der Champagner Perlenfäden zieht. Mara erlaubt sich einen leisen Seufzer, während Corinna zufrieden ihre Glaceehandschuhe zurecht zupft. Unter dem glanzvollen Satin verbergen sich Narben, die Corinna sich sorgfältig selbst beibringt. 

"Trink, Liebes, bevor der Champagner wieder schal wird." sagt Corinna, während ihre behandschuten Finger sich zu fest in Maras Schulter graben; lacht ein glockenhelles Lachen als sie sich abwendet.
Über die abgenagten Knochen für den Verzehr gezüchteter Wachteln, breitet sich eine seichte Unterhaltung. 

Mara sieht den Perlen in ihrem Glas dabei zu, wie sie rhythmisch an die gold-kupfer schimmernde Oberfläche gleiten, bemüht nicht auf Bertrams Vortrag zur kommenden Kaltfront, die untypisch für diese Zeit des Jahres sei, zu achten und zugleich den stechenden Blick vom Kopfende des Tisches abzuwehren. 
Oliver reckt den Hals. 
"Was wüsstest du gern, Mara?" unterbricht seine Stimme Bertrams Vortrag über das Wetter.
Die Knochen der Wachteln ragen in die plötzliche Stille.

Olivers schmächtige Gestalt verschwimmt hinter einer Kerzenflamme, die über flüssiges Wachs tanzt. Bertrams Hände legen sich um die Kante des Tisches. Als wollten sie der ruhig ausgeführten Geste widersprechen, treten die Knöchel weiß hervor. 
Bertram schätzt es nicht, wird er unterbrochen. 

Sie kennen einander seit Jahren und verabscheuten sich auf Anhieb. Zwei Jungen, aus denen Männer wurden, die sich einen ausgewachsenen Faustkampf hätten liefern sollen. In aufgeschürften Knien und blutigen Lippen, geprellten Rippen und einer Platzwunde über dem linken Auge, wäre er geendet und mit ihm die Abscheu.
Jedoch waren sie keine Straßenkämpfer, sondern vermeintliche Schöngeister, die sich über abgenagten Knochen gezüchteter Wachteln, zwischen Kerzen und Champagner nicht einmal hassten, sondern schlicht bis in die letzte Zelle verachteten.

Sie hatten versucht voreinander zu fliehen, denn sich nur aus dem Wege zu gehen schien ihnen nicht angemessen. Bertram hatte über die zurückliegenden Jahre hinweg nicht selten mit dem Gedanken geliebäugelt, Olivers schmächtige Gestalt, die ein unproportionaler Kopf beinahe ins Lächerliche zog, zwischen jenen Händen zu zermalen, die sich jetzt in der Tischkante nahezu fest beißen.
Das Weiß der Knöchel spiegelt das  Kerzenlicht. Maras Schultern wollen in sich zusammenfallen wie gerade aufgekehrtes Laub.

Das feine Satin reibt an den Narben, schickt sich an zu knistern. Mit der Übung jahrelanger Unauffälligkeit schiebt Corinna ihren Stuhl auf einem Parkett zurück, das die Bewegung auffallend geräuschlos geschehen lässt.
Fast eilig lenkt Corinna ihre Schritte um den Tisch, streift Bertrams Schulter mit einer beruhigenden Geste.
"Es lohnt nicht." murmelt sie im Vorübergehen. Bertrams Hände geben einen Moment nach, scheinen alle Anspannung fahren zu lassen. Olivers Hals reckt sich noch immer verschwommen in dem Schein der Kerze. 
Corinna schenkt selbst Champagner nach. Ihre Augen ruhen unter halb geschlossenen Lidern auf einem Messer. Danach zu greifen wäre einfach. Den Handschuh müsste sie nur einige unbedeutende Zentimeter zurückschieben. Nur ein Schnitt. Einige Tropfen Blut, die sich leise auf dem Weiß des Tischtuchs niederlassen könnten. 
Statt ihres Blutes läuft Champagner über den Tisch.
Maras Schultern straffen sich.
"Ich wüsste gern", setzt sie erneut an, "warum wir unsere Zeit miteinander verschwenden."
In die andauernde Stille ragen die Knochen der Wachteln. 
Ein Glas geht zu Bruch. 
Mara gleitet von ihrem Stuhl. Den Blick auf die Scherben gerichtet. 
"Glück." sagt sie. "Scherben bringen Glück." 
Mit größter Sorgfalt legt sie eines der Glasstücke auf Corinnas Teller.
"Ihr solltet euch endlich prügeln." Ihre Finger wandern über Olivers gespannte Sehnen. 
Niemand sieht ihr nach, als sie den Raum verlässt.
"Ich bin es leid, Bertram." wirft sie über die Schulter zurück in die Stille einer Tischgesellschaft.