Sonntag, 14. Februar 2016

Jakobs Ketten - Zwei -

Es ist früh. Die Glasfassade gibt den Blick auf einige wenige Passanten frei, die durch morgendliche Stille hetzen. Die Dunkelheit wird künstlich durch das Licht der Straßenlaternen gestört. Ruth steht vor dem großen Bibliotheksfenster im fünften Stock. Eine raue Hand presst sie gegen das Glas, stemmt die andere in den Rücken. Die Haut um die Fingernägel ist eingerissen. Gestern hatte das Nagelbett noch geblutet. Ruth hat ungeduldig auf den Hautfetzen und an ihren Daumen gekaut, während ein kleines rostrotes Rinnsal sich wie eine Tätowierung um ihre Finger gewunden hat.
Sie sollte die Hand von der Scheibe nehmen. Ruth weiß das. Der schmierige Abdruck ihrer Finger wird von weitem auf der sonst makellos glänzenden Scheibe zu sehen sein, kaum dass etwas Licht darauf fällt. Ihre Hand verstärkt selbstbestimmt den Druck auf die Scheibe. Was, wenn sie bräche? In tausende und abertausende kleine Splitter, die auf dem sich wellenden Teppichboden ein Muster ergeben und auf die Straße hinunter fallen würde. Und bevor Ruth sich einen anderen Halt suchen könnte, würde sie dem Scherbenregen folgen, sich vielleicht einmal um sich selbst drehen im freien Fall. Sie würde das Bewusstsein verlieren, bevor ihr massiger und kleiner Körper auf den Asphalt im künstlichen Licht der Straßenlaterne aufschlüge und es wäre alles still.
Geschäftsmänner, die sich in unscheinbar wirkenden grauen oder schwarzen Wintermänteln verstecken, hasten über den Bordstein. Ruths Lippen formen einen Schrei, die wulstigen Knie brechen auf den Teppich nieder. Die in den Rücken gestemmte Hand sucht sich einen neuen Platz, wunde Finger bohren sich in die Fasern neben dem linken Knie, finden keinen Halt. Die rechte Hand brennt. Sie hat den Druck nicht verringert, ist an der Glasscheibe heruntergerutscht auf die Höhe in der Ruth ihren gesenkten Kopf hält. Eine fettige Spur hat sie über das stabile Fensterglas gezogen.
Ruth versucht sich aufzurichten. Sie kann hier nicht bleiben. Ruth weiß das. Bald werden die ersten Angestellten das Gebäude und kurz danach das Stockwerk betreten. Sie werden ihre Computer anschalten und sich ihrer Arbeit widmen. Es könnte noch ein paar Stunden dauern, bis der erste seinen Weg in die Bibliothek findet. Ruth wird dann nicht zusammen gekauert vor der Fensterscheibe knien. Die Vorstellung, Fremde würden auf sie hinunter sehen wie sie dort läge, spült eine gewaltige Welle Scham über Ruth hinweg. Mühsam nimmt Ruth die Hand von der Fensterscheibe. Sie befiehlt ihrem ungehorsamen Körper sich zu bewegen. Zunächst gehen ihre Beine in die Hocke. Ruth atmet unter dem Druck auf ihren kurzen Beinen schwer. Sie zählt. Fünf, vier, drei, zwei – ein Ruck fährt durch ihren Körper.
Wankend steht sie vor der Fensterscheibe. Ohne Halt. Sie sieht sich um. Der Weg über den Flur scheint ihr weiter als gewöhnlich.
In der Welt vor dem Fenster wird das künstliche Licht der Straßenlaternen von der schummrigen Dämmerung abgelöst. Ruth hat keine Zeit hier zu stehen. Sie weiß das.
Auf wackligen Beinen suchen ihre trüben Augen nach einem Versteck. Sie findet den Lagerraum am Ende des Flures. Ruth wird den Tag in diesem Gebäude verbringen.
Der Lagerraum ist kalt. Ruth legt ihre Finger auf den Lichtschalter neben der Tür, die sie leise schließt. L-förmig liegt der Raum vor ihr. Aus den sterilen Regalen quellen Kugelschreiber und Briefumschläge verschiedener Größen. Vor dem Fenster sieht Ruth Kartons stehen. Dazwischen liegt ein alter Teppich in Falten. Ruth macht zwei schwere Schritte auf die Kartons zu, rückt den Teppich grade. Einen der Kartons, der leichter zu heben ist, als es den Anschein hatte, stellt Ruth unter das Fenster. Sie nickt der kleinen Zuflucht zu, bevor sie zurück zur Tür geht, um das Licht auszuschalten. Ihre Augen gewöhnen sich schnell an das trübe Licht. Im Flur vor dem Lagerraum füllen erste Stimmen den Büroalltag. Ruth kriecht auf allen Vieren in ihre kleine Zuflucht. Ihre Wadenmuskeln verkrampfen sich. Ruth beißt auf ihre Unterlippe bis sie Blut schmeckt. Sie darf keinen Laut von sich geben. Ruth weiß das. Der Geruch von schweißnasser Angst füllt den kleinen Lagerraum bis unter die Decke aus. Ihren Rücken lehnt sie gegen den Karton vor dem Fenster. Vor der Tür gehen die Angestellten auf und ab. Mit jedem ihrer Schritte will Ruth tiefer zwischen die Kartons kriechen. Sie versucht ihre Gedanken fort zu lenken. An einen anderen Ort, eine Erinnerung. Die stechenden Schmerzen holen sie ins Jetzt zurück, zurück in den Lagerraum. Ruth will nicht wissen, woher die Schmerzen kommen. Es ist nichts, will sie sich selbst belügen.
Die Klinke der Tür bewegt sich nach unten. Ruth zieht ihre Beine an. Durch den Flur schallt eine Stimme. Die Klinke schnellt zurück in ihre ursprüngliche Position. Ruth hört Schritte, die sich entfernen. Ruth atmet die schweißnasse Angst aus. Ihre Lunge brennt. Sie schließt die Augen, zählt ihre Atemzüge. Der Schmerz zieht sich erneut durch jede Faser ihres Körpers. Die angezogenen Beine zittern. Ruth ballt ihre rechte Hand zu einer Faust. Die Reste ihrer abgekauten Fingernägel bohren sich in den Handballen. Es ist ein anderer Schmerz. Ruth versenkt sich darin. Sie will nicht fühlen. Hinter ihren geschlossenen Liedern zucken Bilder durch ihre Gedanken. Die Gasse, durch die der Fremde sie vor Monaten zog. Ruth schüttelt den Kopf. Das Gesicht ihrer Mutter tanzt zu einer grinsenden Fratze verzogen durch ihr Inneres. Sie wird sich fragen, warum Ruth nicht nach Hause kommt. Sie wird zornig in ihrem Bett liegen und den Stock neben der Tür anstarren. Sie wird sich wünschen, sie hätte die Kraft aufzustehen. Ruth hört das kehlige Lachen als der Schmerz ihr erneut in die Glieder fährt. Es gibt kein Entkommen. Ruth weiß das.
Zwischen ihren unterdrückten Schreien und der blutig gebissenen Unterlippe vergeht vor der Tür des Lagerraumes der Büroalltag, als gäbe es sie nicht. Die Angestellten, deren Schreibtische Ruth dreimal wöchentlich vorsichtig mit einem feuchten Tuch abwischt, erzählen sich zwischen der Mittagspause und dem Nachmittagskaffee Geschichten über die sportlichen Erfolge ihrer Kinder.
Ruths Körper hat sich ohne ihr Zutun auf die Seite gewälzt. Der Teppich hält die Kälte des harten Bodens kaum ab. Ruth hört auf das Gemurmel der Stimmen, die in unregelmäßigen Abständen an der Tür vorbei gehen. In dem trüben Tageslicht starrt sie auf die Wand hinter den Kartons, als könnte sie hindurch sehen, strengte sie sich nur genügend an. Als würde sie würde dahinter ein anderes Leben sehen können. Ein Leben ohne Schmerzen und ohne die schweißnasse Angst, die sie seit Stunden einatmet. Sie wäre glücklich und müsste nicht die Papierkörbe anderer Leute ausleeren oder die Kissen ihrer Mutter aufschütteln. Ruth erlaubt sich selten Träume; ihre Wünsche hat sie längst unter den rosafarbenen Teppich in ihrem Kinderzimmer gekehrt. In ihrem Leben ist kein Platz für Wünsche. Ruth weiß das.
Es ist still geworden in den Fluren, die den kleinen Raum umschließen. Ruth tritt gebeugt in die Welt auf der anderen Seite der Tür.

In ihrer Hand hält sie eine wimmernde Plastiktüte. Im Gesicht den Ausdruck teilnahmsloser Selbstverständlichkeit trägt sie die Tüte aus dem Bürogebäude hinaus auf die Straße. Vernebelte Gedanken bemühen sich um Klarheit. Es ist unmöglich, die wimmernde Plastiktüte auf den nächstgelegenen Treppenstufen abzulegen, ihr den Rücken zu kehren und sich nie wieder umzusehen. Zeit ist etwas kostbares, durchzuckt es Ruth. Unwillkürlich schüttelt sie das an ihrem Handgelenk baumelnde Plastik, als das Wimmern droht die Straßengeräusche zu übertönen. Ziellos setzt Ruth einen Schritt hinter den anderen. Der Weg in das Haus ihrer Mutter scheint ihr für den Moment unwiderruflich versperrt. Ruth sieht sich um, mitten in einer fremden Gegend steht sie zwischen Rotklinkerbauten. Wie lange sie gelaufen ist, weiß Ruth nicht. Der symmetrisch bebaute Teil der Stadt scheint menschenleer. In nicht allzu weiter Ferne schlagen Kirchenglocken. Ruth reckt den kurzen Hals und lenkt ihre Schritte in die vermutete Richtung der Kirche. 
Die Schritte sind schmerzhaft. Brennend frisst sich der Asphalt durch ihre Schuhsohlen und in ihr Gewissen. Sie hat keine Wahl. Die Plastiktüte wimmert. Ruth verschließt ihre Ohren. Konzentriert sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das Gewicht der Plastiktüte nimmt zu. Ruth beschleunigt ihre Schritte, erstickt den Wunsch den Schmerz in das vorstädtische Idyll zu schreien in ihrem Inneren. In der Dämmerung schiebt sich die Kirche stumm in ihr Blickfeld. Über den Stufen zum Eingang breitet sich ein bedrohlicher Vorsprung aus. Die alten Steine strahlen vorwurfsvoll auf den gepflasterten Weg. Ruth stolpert über unebenes Kopfsteinpflaster dem Portal entgegen. Zwischen Rosensträuchern und Stiefmütterchen entledigt Ruth sich eilig der Plastiklast.
Zeit ist kostbar. Ruth wendet schwerfällig ihren runden Körper. Duckt sich in der beginnenden Dunkelheit zwischen den Schatten der Straßenlaternen, verfolgt von dem Gefühl einer unbesiegbaren Schuld.
Auf dem Bordstein blutet eine kopflose Amsel rostrot auf den schwarzen Asphalt. Über Ruths Wangen schleichen kalte Tränen beim Anblick des toten Vogels. Vorsichtig bückt sie sich hinunter. Aus ihrer Tasche kramt sie ein Taschentuch, schlägt den noch warmen Körper darin ein. Die Minuten vergehen im Sekundentakt. Ruth atmet schwer, nach einer geeigneten Grabstelle suchend, entfernt sie sich gezählte Schritte weiter von der stummen Kirche. Das Taschentuch färbt sich in tiefe Rottöne, als Ruth eine Verkehrsinsel bemerkt. Mit bloßen Händen hebt sie nach Luft ringend eine Grube aus, legt die Amsel hinein. Die Erde schiebt sie schnell über das grau scheinende Gefieder. Ein greller Schrei reißt den Beginn der Nacht in Stücke.

Abseits

Das Kopfsteinpflaster liegt in unebener Schönheit auf unbeachteten Nebenstraßen, während sich die Zeit im Rinnstein sammelt.
Zwischen den Zweigen zeichnet die Phantasie Gesichter in einen Himmel, der jeden Moment Regen auf ausgetrocknete Grasflächen herab fallen lassen möchte und doch unentschieden die Schleusen verschlossen hält.
Abseits der unebenen Schönheit sitzt eine Gestalt, die Baskenmütze nur einige unbedeutende Zentimeter zu tief in die Stirn gezogen, umhüllt von einem zu weit wirkenden Regenmantel in herbstlichen Beigetönen, auf einer Parkbank, unmittelbar unter einer Birke, welche sich altersgram der Erde zuneigt.
Aus der Entfernung betrachtet mutet die Szene als eine solche an, die auf einen Künstler wartet. Die Staffelei stets unter dem Arm tragend beträte er die Grünfläche vor der Parkbank, dem Schild am Rande zum Trotz, welches das Betreten als verboten ausweist.
Auf einer Palette mischte der junge Mann, dessen Oberlippe ein französischer Schnauzbart zieren müsste, Farben an, um das sich ihm präsentierende Stillleben einzufangen.
In die zaghaften Anfänge eines Gesprächs vertieft würden sich der Künstler und sein Modell dem Geschehen um sie herum entziehen, bis zur Vollendung eines in Ewigkeit gebannten Moments und beraubten die Großstadt mit der Leichtigkeit präziser geführter Pinselstriche eines Teils ihrer Anonymität.
Inzwischen mischten sich unter die angesammelte Zeit im Rinnstein ausgesprochene Geheimnisse, gerade so weit entlassen, dass sie auf der Spitze einer Zunge zu liegen kämen. 

Jakobs Ketten - Eins -

Ruths Schädel pocht als sie aus halb geöffneten Augen an die Zimmerdecke, deren Anstrich einst vielleicht weiß war, inzwischen aber ein rauchgelbes Kleid ist, durchzogen von Wasserflecken und Schimmelinseln, und dann an sich herunter sieht. Sie liegt auf einer alten Matratze, die zu weich ist für ihren von Übergewicht geschundenen Rücken unter einem dünnen Laken, einen pelzigen Geschmack auf der Zunge.
Mit der linken Hand reibt sie sich den Schlaf aus den Augen, um den Blick zu schärfen für eine Umgebung, von der sie sicher ist, dass sie sie nicht wahrnehmen will, als sich neben ihr etwas bewegt. Ein Fuß stößt mit ihrem Bein zusammen. Als der nicht geschnittene, ungepflegte Nagel des kleinen Zehs ihre Wade streift, unterdrückt sie einen angewiderten Schrei, saugt die verkaterte Luft zu tief in ihre von reichlich Zigaretten verbrauchten Lungenflügel und setzt sich auf.
Wie der Mann, auf dessen Matratze sie sitzt, heißt, hat Ruth entweder über das dritte Glas billigen Rotweins vergessen oder nie gewusst. Angestrengt versucht sich ihr Kopf daran zu erinnern, was sie in dieses Zimmer gebracht hat. Ruth ist 19 Jahre alt an diesem Morgen im Spätherbst 1988. Sie ist weit davon entfernt, als klassische oder überhaupt irgendeine Art von Schönheit zu gelten, wie ihre Mutter nicht müde wird, ihr zu versichern. Die grünen Augen stehen zu eng über der kleinen Nase zusammen, verdeckt von buschigen Brauen, die Ruth von ihrem Vater geerbt hat. In dem runden Gesicht verschwinden die schmalen Lippen fast ungesehen. Ruth ist nicht schön. Eine unglückliche Mischung verschiedener Gene mit Doppelkinn. Ihr kleiner Körper versinkt fast in sich selbst, so sehr liebt Ruth es zu essen, dass sich über die Jahre Polster um Polster um ihre Knochen winden. Manchmal scheint es Ruth ein Segen, wenn sie in ihrem Kinderzimmer sitzt, dessen Einrichtung sich nicht verändert hat, seit sie 5 war. Rosafarbene Wände, ein Himmelbett, ein Schloss hat ihr Vater ihr auf die Raufasertapete gemalt, einen Ort zum Träumen, bevor er ging und niemals zurückkehrte; ihre Mutter über dem Bett einen großen Nagel in die Wand schlug und dran das Bild der heiligen Maria hing.
Ruth zuckt erneut zusammen. Eine gewaltige Welle Abscheu spült über sie hinweg. Der Fremde neben ihr sabbert ungerührt über seinen Drei-Tage-Bart, der ihr gestern noch anziehend erschien, in das Kopfkissen, dessen orangener Bezug vor Monaten hätte gewaschen werden müssen.
Ruth setzt leise einen Fuß auf den Boden, wuchtet ihren kleinen, runden Körper so vorsichtig sie kann aus dem Bett, suchend tasten ihre Hände nach der hastig abgeworfenen Kleidung. Sie betet, der Fremde möge nicht aufwachen, ihr die Peinlichkeit ersparen, ihn bei Tageslicht ansehen zu müssen, angesehen zu werden. Was sie gedacht hat, in dieser Bar, halb versteckt hinter dem billigen Rotwein in einem langstieligen Glas, das weder zu Ruth noch zu dem Wein passen wollte, erinnert sie nicht mehr. Dunkel glaubt Ruth zu wissen, dass ihre Hand sachte den zu engen Rock ein Stück über das Knie geschoben hat, während der Fremde, der jetzt in sein heruntergekommenes Kissen sabbert, zu ihr herüber oder vielleicht auch nur vage in ihre Richtung gesehen hat. Ein wenig mag sie den Hals gestreckt, das blonde Haar aus der Stirn gestrichen haben. Ruth ist keine Verführung, nicht eine sinnliche Rubens-Figur. Das schiefe Lächeln, die wenigen Gesten, an denen Ruth spätestens scheitert, versucht sie die wulstigen Knie damenhaft übereinander zu bringen, hat sie sich aus Filmen abgeschaut. Der Fremde ist zu ihr herüber gewankt, hat ein halbes Bier auf dem Weg verschüttet, sich dann auf der Tischkante abgestützt und Ruth verschwommen angesehen. Der Fremde schnarcht, Ruth greift hastig nach ihren Schuhen. Der Fremde hat ein weiteres langstieliges Glas für Ruth bestellt, zusammen mit einem Schnaps und eine schwitzige Hand ungeschickt unterhalb ihres Rocksaumes platziert. Je mehr Wein Ruth trinkt, desto höher schiebt die schwitzige Hand ihren Rock das Bein hinauf. Ruth versucht zu lächeln, die Nacht taucht langsam in dunkelrote Alkoholschwaden, durchzogen von einem leichten Gefühl der Übelkeit. Ruth achtet nicht darauf, der Fremde sieht sie durch seine verschwommenen Augen an. Belanglos, voneinander gelangweilt, werfen sie sich mit schwerer Zunge Sätze zum Fraß vor, von denen sie wissen, dass sie sofort vergessen werden. Als der Fremde langsam aufsteht, sieht Ruths rundes Gesicht zu ihm hinauf, während ihre Hände an dem Bemühen scheitern, den engen, mit fremdem Schweiß getränkten Plastikrock herunter zu streichen. Ein Teil von ihr weiß, sie sollte den Fremden gehen lassen. Doch als der Fremde sie ohne Widerspruch zu dulden aus ihrem Stuhl zieht, lässt Ruth ihn bereitwillig gewähren. Sie hat diese Bar betreten, um zu fliehen. Vor einer Mutter, die bettlägerig auf ihre Hilfe angewiesen ist, deren Stimme heiser ist von geschrienen Demütigungen. Vor einem rosa Mädchenzimmer, das ebenso wenig zu ihrer Seele passen will wie das erzwungene Gebet jeden Abend. Ruth will sich an diesem Abend lebendig fühlen. Sie bekommt nicht viele Gelegenheiten, zu spüren, dass sie lebt und nicht nur die Erwartungen erfüllt, die an sie gestellt werden. Fremde sehen sich nicht nach ihr um. Ihre Schüchternheit versperrt ihr den Weg zu jeglichen Gesprächen. Der Mann mit dem Drei-Tage-Bart und dem verschwommenen Blick stört sich nicht daran, dass Ruth weder sich selbst schön findet, noch schön gefunden wird. Selbstverständlich gehen sie Arm in Arm und doch unrhythmisch neben einander her. Die kleine Gasse ist schlecht beleuchtet. Ruth denkt kurz an die Warnungen ihrer Mutter, wenig liebevoll, immer mit dem Zusatz vorgetragen, sie seien unnötig, niemals würde Ruth in eine solche Lage geraten. Auch deshalb ist sie an diesem Abend aus dem mütterlichen Haus geflohen. Um zu beweisen, dass diese Warnungen sehr wohl berechtigt ausgesprochen und einzig der schmerzhafte Spott unnötig war. Der Fremde zieht Ruth eine Treppe hinauf und ihr kurz darauf den Rock herunter. Ruth schließt ihre Augen, atmet an den Bierschwaden vorbei, die der Fremde ausstößt.
Sie windet sich unter unbeholfenen Berührungen. Der Fremde begehrt sie nicht. Ruth ist keine Frau, die ein Mann begehrt. Ruth ist eine Frau, die benutzt wird. Wenn sie ihren Zweck erfüllt hat, darf sie gehen. Niemals huldvoll entlassen, stattdessen vom Hof gejagt. Ruth weiß das. Ihre Mutter behauptet, Bedürfnisse sind eine Schwäche des Charakters. Ruth müsse stark sein, sich besinnen. Heute Nacht will Ruth sich nicht besinnen. Obwohl sie weiß, dass am Morgen schamvolle Reue auf ihr liegen wird, wie jetzt der schnaubende Fremde. Das Gewicht wird das gleiche sein. Den Fremden wird sie abwaschen; das Gewicht der Gefühle nicht.
Ruth verlässt das Zimmer ohne sich noch einmal nach dem Fremden unter dem Laken umzusehen. Fast bedächtig schließt sie die Tür, schlüpft im Hausflur in ihre Schuhe und hastet das Treppenhaus hinunter, dem das Tageslicht ebenso wenig schmeichelt wie ihr. Der Versuch das Unbehagen, das mit jedem Schritt zunimmt, mit einem zu heißen Kaffee zu verbrennen, misslingt. Ruth weiß, was sie Zuhause erwartet. Ihre Mutter wird zu brüllen beginnen, sobald Ruth die Haustür aufgeschlossen hat. Nach dem Frühstück wird sie schreien, nicht ohne Ruth zu beschimpfen, weil sie die ganze Nacht fortgeblieben ist. Eine Erklärung wird die alte Frau fordern, aber sie nicht anhören. Während Ruth ihr Kissen aufschüttelt wird sie den fleischigen Arm ausstrecken, ihre scharfkantigen Fingernägel werden sich in Ruths Haut bohren. Sie wird die Zähne aufeinander beißen und nicht wimmern, die Nägel werden sich immer tiefer in das Gewebe graben, während die alte Frau Worte zu Ruths verbissenem Gesicht hinauf spucken wird. Sie sei selbst schuld daran, wird sie sagen. Dankbar solle sie sein, dass es der alten Frau nicht möglich ist, aufzustehen. Ruth erinnert sich gut, als ihre Mutter noch die Kraft hatte, das Bett zu verlassen. Der Rohrstock steht inzwischen unerreichbar, mahnend gleich neben der Zimmertür. Eine verruchte, abscheuliche Gestalt wird sie Ruth nennen, nicht besser als es Huren sind. Sie wird Ruth zwingen zu beten, laut. Und sie wird lachen, dieses grauenhaft kehlige Lachen, bis ihr die die Luft ausgeht.
Bleischwer schleppt Ruth ihre Glieder dem Haus und ihrem tatsächlichen Leben entgegen. Die Bemühungen, sich für den Rest dieses und den Rest aller Tage zu wappnen, werden scheitern. Ruth weiß das. Es gibt für sie kein Entkommen, nicht so lange die alte Frau da in ihrem Bett liegt, ihre scharfkantigen Fingernägel, die Ruth mit so wenig Liebe wie möglich einmal wöchentlich schneidet, in die Haut ihres Armes gräbt. Oft träumt Ruth, sie nähme das Kissen in ihre Hände. Nicht um es aufzuschütteln, sondern um es der alten Frau auf das speckig glänzende Gesicht zu drücken. Das kehlige Lachen darunter zu ersticken. Ruth würde das Kissen mit all ihrer Kraft auf dem verhassten Gesicht halten, bis der wunde Körper auf der durchgelegenen Matratze still da läge. Sie würde den Erinnerung an die einst liebevolle Hand, die über ihren Kinderkopf strich, verbieten sich mit den letzten Zuckungen der Glieder einen Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen.
Ruth stolpert über einen Zweig, der auf dem Gehweg liegt. Kurz bleibt sie stehen, blickt hinunter auf den Zweig, der aus dem Nichts gekommen sein muss. An der Straße steht nicht ein Baum in Sichtweite. Aus der Entfernung könnte man das Stück Holz für eine sich krümmende Schlange halten. Ruth hebt den Zweig auf. Dreht ihn in rauen Händen, bis er in zwei ungleiche Teile zerbirst. Als hätte das Knirschen des Holzes sie aufgeschreckt, setzt Ruth einen Fuß vor den anderen. Sie bewegt sich mit schmerzhafter Langsamkeit, um das unvermeidliche hinaus zu zögern.
Der hasserfüllte Flur nimmt ihr die Luft. Vertraute Geräusche tosen in ihren Ohren, legen jeden Gedanken still. Ruth ist taub. Ihre Mutter richtet sich ächzend einige Zentimeter auf, präzise Blicke zerschneiden Ruths Gesicht. Sie schüttelt das Kissen auf. Die alte Frau vergräbt scharfkantige Fingernägel in Ruths Unterarm.
Ruth steht neben sich am Bett ihrer Mutter, während ihre Stimme versagt. Sie solle deutlich sprechen, weisen gebleckte Zähne sie an. Obwohl sie ohnehin nicht auf Vergebung hoffen könne, belehrt sie das speckig glänzende Gesicht. Ruths Mutter ist nicht so nachsichtig wie der Heiland. Ruths Mutter stirbt nicht. Besonders nicht für die Sünden ihrer Tochter.
Das Licht fällt aschgrau auf die Bettdecke unter der sich die längst unbeweglichen Beine der alten Frau abzeichnen. Auf dem Nachttisch steht eine Vase mit künstlichen Blumen. Staubdeckte Blüten aus einer Zeit, die längst vergessen ist. Ruths Blick klebt an der Vase, die stiller Ausdruck ihres Protests ist. Reinigen soll sie die Blüten. In ihrer Verweigerung dieser einen Geste liegt ihre gesamte Abscheu vor dem Raum und der darin liegenden Frau. Ein Zwang, dem Ruth sich nicht unterwirft. Die Mutter hat in diesem Punkt aufgegeben. Der Staub ist ihr ein Qual. Ruth weiß das.
Als sie sich aus den Fängen der Mutter löst, will ein seltenes Lächeln um ihre Mundwinkel zucken. Ruth wundert sich über den Impuls und gibt ihm erst in der rosafarbenen Beschaulichkeit ihres Zimmers nach. Die Mutter sieht sie nicht gerne lächeln. Ruth hat das Recht auf fröhliche Unbeschwertheit verwirkt.
Die Räume liegen drohender Stille in der fahlen Nachmittagssonne, während draußen Kinderlachen tönt. Ruth steht am Fenster und sieht auf die fremde Welt vor dem Haus. Das Freibad auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat geschlossen. In dem Becken sammeln sich Blätter, die der Wind von den Bäumen gezerrt hat. Verloren in der Betrachtung der Blätter durchzuckt sie eine Erinnerung. Die fleckige Zimmerdecke des Fremden. Ruths kleiner Körper schüttelt sich, doch das Bild bleibt haften. Sie schließt die Augen. Die Flecken der Zimmerdecke nehmen die Form von Blättern an und tanzen. Hämisch hat es den Anschein. Ruth sinkt auf das Kinderbett und wartet. Auf die Gnade eines traumlosen Schlafes.
In eintöniger Selbstverständlichkeit vergehen die Tage, werden zu Wochen und Monaten. Ruth erlaubt sich keine weiteren Ausflüge. Sie schüttelt die Kissen ihrer Mutter auf, während die alte Frau sehnsüchtig auf einen Fehltritt wartet.
Der Plastikrock will Ruth schon seit geraumer Zeit nicht mehr passen. Sie versucht sich hin und wieder heimlich hinein zu zwängen. Ruths Körper schwillt von Tag zu Tag an; sie verhüllt ihn so gut es geht. Der Gedanke an die Ursache für die Veränderung hat in ihrem Verstand keinen Platz. Wann immer er sich Gehör verschaffen will, stopft Ruth ihn in die Tiefe zurück, begräbt ihn unter weiterer Kleidung und Ausflüchten. Der Mutter ist aufgefallen, dass Ruth sich verändert hat. Noch unförmiger sei sie geworden. Aber es spiele keine Rolle geifert ihr das speckig glänzende Gesicht entgegen. Ruth sei innen wie außen nicht liebenswert. Wenn die Mutter sie nicht lieben könne, wie wolle sie erwarten, dass ein Fremder dazu in der Lage sei. Das kehlige Lachen klingt durch den hasserfüllten Flur, als vor dem Fenster das Kinderlachen im ersten Schnee stirbt.
Der Morgen verkleidet sich als Nacht, die Dunkelheit will der schwachen Wintersonne nicht weichen. Ruth erhebt sich mühsam und fühlt einen Tritt in ihrem Inneren. Ein Krampf, sie hat am Vorabend zu spät gegessen. Es ist nichts weiter als ein Krampf. Leise wickelt sie sich in die Kleidung, die sie sorgsam auf dem Schreibtischstuhl zurecht gelegt hat. Sie nimmt ihre Tasche und verlässt das Haus. Auf kalten Füßen geht sie, darauf bedacht nicht zu fallen, zur Bushaltestelle, wie sie es nunmehr dreimal wöchentlich tut. Der Bus bringt sie bis zu ihrer neuen Arbeitsstelle, hält gleich vor der Tür. Das Bürogebäude sieht wie üblich mit seiner abweisenden Glasfassade auf sie herunter, Ruth greift ihre Tasche fester.
Sie leert Papierkörbe und wischt über Schreibtische, auf denen Bilder von glücklichen, reichen Familien stehen. Kleine blondgelockte Mädchen, die Vaters ganzer Stolz sind und Bengel, die ihre Zahnlücken an der Hand der freudestrahlenden Mutter dem Fotografen präsentieren. Neben perfekt angeordneten Schreibutensilien stehen diese eingerahmten Bilder von perfekten Familien, in denen niemand Kissen aufschütteln oder fremde Schreibtische wischen muss. In Ruths Innerem tritt sie etwas. Das ist nur der Wunsch, diese Bilder in die Papierkörbe zu fegen, so dass die passend ausgesuchten Rahmen zerspringen; das Glas das Fotopapier in Fetzen reißt. Es ist nichts. Weil es nichts sein darf.
Trotzig wischt Ruth über das letzte Sideboard des Morgens, still steht sie da. Besieht sich ihr Werk, als sie einen neuerlichen Tritt spürt. Sie legt die linke Hand bestimmend auf ihren geschwollenen Leib. Unwillkürlich übt ihre Hand Druck aus. Es ist nichts.
Ruth sitzt auf einer Parkbank. Nur ein paar Gehminuten entfernt liegt die Arztpraxis. Im Wartezimmer hat Ruth ihre Zeit veratmet. Zwischen strahlenden Frauen hat sie gesessen. Ruth hat irgendwo gelesen, dass Schwangere von Innen leuchten. Ruth leuchtet nicht. Ruths Inneres ist so schwarz wie ihre Kleidung. Schwarz geht unter, ist unauffällig. Ruth will nicht auffallen. In einer Ecke des Wartezimmers steht eine Kiste mit Spielsachen. Fröhliche Plastiklaster; Holzklötze, die zu Türmen werden wollen. An diesem Dezembernachmittag liegen die Spielsachen unberührt in der Kiste.
Eine schlanke Frau ruft ihren Namen. Ruth nimmt ihren Blick von den Holzklötzen, erhebt den schwerfälligen Körper, schiebt die rauen Hände tiefer in die Taschen ihres Mantels. Die schlanke Frau winkt Ruth ihr zu folgen; führt sie in einen Raum, an dessen Wänden lächelnde Kindergesichter hängen. Sie solle Platz nehmen, sich noch einen Augenblick gedulden. Ruths Kehle schnürt sich wie von selbst zusammen. Ihr Mund will Worte formen und doch nicht aussprechen. Die schlanke Frau steht fragend in der Tür. Ob sie sich nicht wohl fühle. Vielleicht ein Glas Wasser. Ruths Kopf nickt. Die schlanke Frau schließt die Tür. Sie sei gleich zurück. Ruth solle Platz nehmen.
Die Armlehnen des Stuhls scheinen Ruth zu drohen. Die Angst kriecht ihre wassergeschwollenen Waden hinauf, weicht ihr Rückgrat auf. Ruth stürzt. Hinaus aus dem Zimmer, hinaus aus der Arztpraxis. Hinein in die kalte, klare Luft. Durch den winzigen Park. Bis zu der Bank. Dem leichten Überzug aus Pulverschnee schenkt sie keine Beachtung. Sie setzt sich. Die Bank hat keine Armlehnen, droht ihr nicht. Ruth starrt auf das schmutzige Weiß zu ihren Füßen. Von Streusalz durchsetzter Schnee. Sie hat den Winter immer gemocht. Diesen Winter mag sie nicht. Sie fürchtet sich vor seinem Ende.
Ruth nimmt eine laute Stimme wahr. Jemand ruft ihren Namen. Die schlanke Frau ist ihr gefolgt. Ruths Blicke suchen nach einem geeigneten Versteck. Doch da ist nichts, was sie retten könnte. Die schlanke Frau bewegt sich anmutig auf sie zu. Streckt eine feingliedrige Hand aus, deren Nägel blutrot schimmern. Die Hand greift sachte unter Ruths Arm. Zieht sie vorsichtig von der Bank, als wäre Ruth zerbrechlich. Hysterisches Lachen schüttelt Ruths Körper, unerwartet plötzlich. Die schlanke Frau blickt besorgt. Ruth streift die Hand und ihren sachten Griff ab. Sie will nicht gehalten werden. Es gehe ihr gut, versucht sie zwischen dem Ringen nach Luft und Tränen zu versichern. Ruth will, dass die schlanke Frau geht. Der Termin sei ein Irrtum gewesen. Es sei nichts. Sie brauche keinen Arzt, keine Beratung. Die schlanke Frau glaubt ihr nicht. Ruth sieht das. Die schlanke Frau kann sie nicht zwingen. Ruth weiß das. Sie tritt einen Schritt zurück, wischt sich mit dem Ärmel ihres Mantels über das Gesicht. Um ihre Mitte spannt der Mantel. Die schlanke Frau hebt die Stimme. Ruth winkt ab. Es sei nichts, wiederholt sie. Ruth ist erstaunt, wie fest ihre Stimme klingt. Als wären die Worte aus Stein. Sie überzeugt sich selbst. Die schlanke Frau zuckt mit den Schultern. Ruth hat den Kampf gewonnen; die schlanke Frau zieht sich zurück.
Ruth sieht auf Parkbank hinunter. Im Pulverschnee hat sie einen Abdruck hinterlassen. Mit rauen Händen wischt Ruth den Schnee von der Parkbank. Der Abdruck verschwindet langsam. Ein maroder Splitter jagt Ruth in den Zeigefinger. Ruth spürt das nicht. Ihrer Hände sind kalt. Ruth spürt auch die Kälte nicht. Etwas in ihrem Inneren versetzt ihr einen Tritt. Ruth lässt sich in das schmutzige Weiß vor der Parkbank fallen. Es ist nichts. Ruth fühlt ein Brennen, das sich über ihr ausbreitet. Es ist nichts. Und dieses Nichts muss damit aufhören, sie zu treten.
Wie lange sie im schmutzigen Weiß gelegen hat, weiß Ruth nicht. Irgendwann hat sich der Nachmittag leise über den einsamen Park gesenkt. Ruth hat ihren Arm unter den Kopf geschoben und auf das gleichmäßige Ticken ihrer Armbanduhr gehört. Sie sollte aufstehen. Ruth weiß das. Ihr Körper versagt ihr den Dienst, will sich nicht bewegen. Der Splitter in ihrem Finger pocht im Gleichklang mit der Uhr an ihrem Handgelenk. Sie war ein Geschenk. Ruth erinnert sich an den Tag im Einkaufszentrum. Es war ein Samstag. Ihr Vater hatte sie wecken wollen. Ruth saß bereits angezogen auf ihrem Bett, als er behutsam die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Ruth hatte sich selbst die Schuhe zugebunden. Minutenlang hatte sie die Schnürsenkel übereinander gelegt, bis ihre unbeholfenen Kinderfinger eine Schleife zustande brachten. Ihr Vater hatte es sofort bemerkt, als er das Zimmer betrat. Gelobt hatte er sie. Seine kluge Prinzessin hatte er sie genannt. Gemeinsam waren sie leise die Treppe hinunter geschlichen. Die Mutter schlief bei halbgeöffneter Tür. Sie hatten gefrühstückt. Der Vater hatte Spiegeleier gebraten. Der Duft von Filterkaffee hatte die Küche ausgefüllt, war in jede Pore gekrochen. Ruth liebte den Geruch. Damals. Heute verursacht er ihr Übelkeit. Nach dem Frühstück hatten sie gemeinsam das Geschirr abgewaschen. Die Mutter sollte an einem Samstag keine zusätzliche Mühe mit der Hausarbeit haben. Der Vater hatte liebevoll darauf bestanden, dass Ruth ihren Teller selbst abspülte. Er hatte ihr einen Stuhl an die Spüle heran gerückt, sie darauf gehoben. Gelobt hatte er sie. Seine fleißige Prinzessin hatte er sie genannt. Ruths Kinderhände hatten gezittert. Sie hatte den Teller fast in die Spüle fallen lassen. Sie hatten ihre Jacken von dem Garderobenständer im Flur genommen und waren in den alten Opel gestiegen. Der Vater hatte sie vorne sitzen und den Radiosender auswählen lassen. Sie solle es nicht der Mutter erzählen, hatte er ihr eingeschärft. Ruth wäre noch zu klein, als dass es erlaubt gewesen wäre. Sie hätte auf der Rückbank sitzen müssen. Die Mutter würde ärgerlich werden und sie vielleicht nie wieder alleine mit dem Vater in dem alten Opel fahren lassen. Es sei ein Geheimnis, hatte der Vater eindringlich widerholt. Ruth hatte genickt und war sich erwachsen vorgekommen. Ruth hatte viele Geheimnisse mit dem Vater. Die Mutter nicht alles wissen, was zwischen einem Vater und seiner Tochter geschehe, gesprochen werde. Ruth war aufgeregt. Sie war noch nie im Einkaufszentrum gewesen. Die Fahrt dauerte nicht lang. Der Radiomoderator kündigte gerade die Nachrichten an, als Ruths Vater den alten Opel auf den Parkplatz lenkte. Gemächlich stellte er den Motor ab, zog die Handbremse an. Ruths linker Schnürsenkel hatte sich gelöst. Ihre Kinderbeine baumelten von dem abgenutzten Sitzpolster herunter. Der Vater band den Schuh neu, strich sachte über die schmale Wade. Sie überquerten Hand in Hand den Parkplatz, auf dem der alte Opel einsam in der Morgensonne glänzte. Der Vater achtete sehr darauf, den Wagen zu pflegen. Jeden Sonntag stand er vor dem Haus, bewaffnet mit einem weichen Lappen und einem Eimer lauwarmen Wassers. Stunde um Stunde rieb und wienerte er den Wagen. Nur weil er alt sei, meinte der Vater, müsse er nicht auch so aussehen. Auf die abgenutzten Polster hatte er Schonbezüge aufgezogen. Die Mutter mochte sie nicht. Der Vater entfernte sie. Und die Mutter machte jeden Sonntag dieselbe hämische Bemerkung. Warum er immerzu an der alten Blechkiste herumwische, wo doch mit nur einem Blick in das Wageninnere deutlich werde, dass das Auto seine besten Tage lang hinter sich habe. Den Schein wolle er wahren, zu mehr sei er nicht in der Lage. Dann ging sie zurück ins Haus und ließ ihren Mann mit seiner Scham darüber, sich keinen neuen Wagen leisten zu können allein.
Das Einkaufszentrum schien Ruth unendlich weit. Sie griff die Hand des Vaters fester, aus Angst ihn zu verlieren. Ruths Augen weiteten sich mit jedem Schritt, den sie tiefer in die bunte Einkaufswelt machten. Im Erdgeschoss gab es einen Bäcker zwischen einer Drogerie und einem Supermarkt. Aus der Parfümerie gegenüber drang eine unerbittlich süße Wolke aus verschiedenen Düften, die sich mit der Kaffeemaschine des Bäckers um die Vorherrschaft des intensivsten Geruchs stritt. Der Vater kaufte Ruth ein Milchbrötchen. Ruth traute sich kaum im Gehen davon abzubeißen. Zwischen den bunten Schaufenstern der Bekleidungsgeschäfte, entdeckte Ruth einen zurückhaltenden Buchladen. Gerne wäre sie hineingegangen. Ruth konnte nicht lesen, aber sie sah die Bücher gerne an, steckte ihre Kindernase zwischen die Seiten, um den Papiergeruch einzusaugen. Ihre Mutter hatte sie einmal dabei erwischt, wie sie ihre Nase in ein altes Märchenbuch versenkt hatte. Sie hatte Ruth das Buch aus den Kinderhänden gerissen. Was sie damit wolle, wo sie doch nicht lesen könne. Die Mutter hatte verächtlich den Kopf geschüttelt und das Märchenbuch hatte am nächsten Tag nicht mehr an der gewohnten Stelle im Regal gestanden. Es war einfach verschwunden. Märchen seien ohnehin nichts für Kinder, hatte die Mutter gefunden. Wenn Ruth lesen könne, werde sie ihr schon das passende Buch geben. Manchmal hatte ihr die Mutter aus der Bibel vorgelesen. Der Vater hatte dann in der Tür gestanden. Sein Gesicht hatte gesagt, die Mutter möge damit aufhören. Das Kind sei zu klein, um zu verstehen. Doch die Worte hatten ihren Weg nicht in den Raum gefunden.
Der Vater zog sie weiter, der zurückhaltende Buchladen verschwand hinter dem bunten Tand einer Geschenkeboutique und einem Geschäft für Tabakwaren. Sie fuhren die Rolltreppe hinauf. Der Vater warnte Ruth sie möge am Ende einen großen Schritt machen. Fasziniert starrte sie auf die flach verschwindenden Treppen. Hopp, hatte der Vater gesagt und Ruths Kinderbeine hatten sich in dem großen Schritt beinahe verheddert. Der Vater hatte sie aufgefangen. Gleich hinter der Rolltreppe öffnete ein Schreibwarenladen seine gläsernen Türen, auf denen die Spuren der Kunden vom Vortag noch zu sehen waren. Abrücke fettiger Finger hatten ein Muster auf das Glas gemalt. Der Verkaufskraft schien das nicht aufzufallen. Ruth biss in ihr Milchbrötchen.
Sie spazierten durch den ersten Stock des Einkaufzentrums, vorbei an einer geschlossenen Eisdiele, einem Laden, in dem allerlei technisches Gerät angeboten wurde und einem Haushaltswarengeschäft. Im Schaufenster stand prominent ausgeleuchtet ein großer Messerblock. Für einen Wimpernschlag verkrampfte sich die väterliche Hand, Ruth zuckte zusammen. Der Griff lockerte sich zu schnell, als das Ruth ihren Vater hätte fragen können, was er beim Anblick der Messer dachte. Ruth war sieben Jahre alt an diesem Samstagmorgen im Einkaufszentrum. Sie war ein empfindsames Kind; die häuslichen Schwingungen hatten sich längst in ihre Seele gefressen.
Vor der Auslage eines Schmuckhändlers blieben sie stehen. Ruths Blick irrte überfordert zwischen den glänzenden Ringen, Armreifen und Ketten umher, bis er schließlich beruhigt an einer unscheinbaren Uhr hängen blieb. Ihr Band war aus blauem Stoff, bedruckt mit kleinen weißen Blüten, in den Zeigern fand sich das blau des Uhrenbandes wieder und in der Mitte des Ziffernblattes tanzten weitere Blüten. Die Uhr gefalle ihr wohl, hatte der Vater festgestellt. Ruth hatte mit trockenem Mund genickt, sich die Hoffnung auf ein Geschenk nicht erlaubt. Doch der Vater war mit ihr in den Laden gegangen. Ganz selbstverständlich, als sei er der reichste Mann der Stadt, so hatte Ruth gefunden, hatte er dem Verkäufer erklärt, er wolle die Uhr im Schaufenster sehen. Sie gefalle seiner Tochter, hatte er angefügt. Der Verkäufer hatte skeptisch auf das Milchbrötchen in Ruths Kinderhand geblickt. Ganz so als könne er sich nicht entscheiden, ob die Ungehörigkeit, den feinen Laden mit einem Milchbrötchen zu betreten Grund genug sei, die Bedienung zu verweigern. Ruth hatte das Milchbrötchen schnell in der Tasche ihres Mantels verschwinden lassen. Der Verkäufer hatte hörbar geseufzt und die Uhr aus dem Schaufenster geholt. Sorgsam hatte der Vater Ruth um das Kinderhandgelenk gebunden. Ruth hatte gestrahlt.
Auf dem Rückweg hatten sie den ursprünglichen Radiosender wieder eingestellt. Ruth hatte immerzu auf ihre neue Uhr gesehen. Zeit sei etwas Kostbares hatte der Vater ihr zugeflüstert, als sei er besorgt, der Ausspruch könne in die falschen Ohren gelangen. Ruth hatte genickt, obwohl sie nicht sicher gewesen war, was der Vater damit gemeint hatte. Als sie zuhause angekommen waren, stand die Tür weit offen. Die Mutter kehrte den Schmutz der Woche aus dem Flur nach draußen. Der Vater hatte Ruth einen Kuss auf die Stirn gegeben. Sie solle der Mutter zunächst nichts von der Uhr erzählen, hatte er gesagt. Sie solle schon aussteigen und der Mutter bei der Hausarbeit zur Hand gehen. Er führe noch einkaufen, sei aber bald zurück, solle sie der Mutter ausrichten. Ruth war folgsam ausgestiegen, darum bemüht die Freude in ihrem kleinen Kinderherzen genauso zu verstecken, wie die Uhr an ihrem Handgelenk. Der Vater hatte den alten Opel gewendet und war die Straße hinunter gebraust. Zeit sei kostbar, hatte er im Davonfahren gemurmelt. Und sich nie wieder umgesehen.
Das schmutzige Weiß ist inzwischen in Ruths Mantel gekrochen. Sie sollte aufstehen. Ruth weiß das. Die Uhr an ihrem Handgelenk hat inmitten der Erinnerung aufgehört zu ticken. Als Ruth ihren steif gewordenen Körper zwingt sich aufzurichten, wünscht sie sich einmal mehr, sie wäre neben dem Vater sitzend in dem alten Opel die Straße hinunter gebraust.

Jakobs Ketten - Null -

Trotz der klaren Luft, die Herbstsonne und Winterwinde vor sich hertreibt, schmeckt der Weg nach Verwesung. Das Tauwasser spiegelt sich trüb selbst. Eine giftige Brühe, die sehnsüchtig auf den nächsten Frost wartet, der so sicher ausbleiben wird wie das Amen in der Kirche, auf deren Holzbänken klimawandelnde Sünder sitzen. Mitten auf der einzigen Straße, die diesen Namen verdient, blutet ein toter Hase auf den feuchten Asphalt.
Jakob steht seit Stunden am Fenster, starrt durch sein schmutziges Spiegelbild auf die rostroten Flecken da auf dem Asphalt. Den Hasen sieht er schon lange nicht mehr. Die nackten Füße sind taub und durch die häusliche Stille tönen laut seine Gedanken, unterbrochen von dem Klirren der Eisenglieder um seinen linken Knöchel. Unter dem Eisenring hat sich längst Schorf gebildet über der Wunde, die vom zu heftigen Zerren herrührt. Jakobs Erinnerung versagt ihm den Dienst. Seit wann das kalte Eisen um seinen linken Fuß liegt, vermag er nicht zu sagen. Jakob darf nicht am Fenster stehen. Eines der vielen Gebote, denen er Folge zu leisten hat, besagt in strenger Deutlichkeit, niemand darf ihn sehen. Auf der Straße tanzen die rostroten Flecken. Jakob versucht den Blick zu schärfen, kneift das rechte Auge zusammen, die verdreckte Fensterscheibe ist ihm im Weg. Wäre seine Kette nur um ein oder zwei Glieder länger, er könnte sie erreichen, einwerfen wohlmöglich. Und dann? Durch die Scherben würde er steigen, nach draußen. Ob er sich die nackten Füße an dem gebrochenen Glas aufschnitte, würde er nicht merken. Rostrote Flecken würde er zurück lassen auf dem feuchten Asphalt, gleich neben dem toten Hasen.
Aber die Glieder der Kette reichen nicht weit genug. Die Freiheit ist mehr als nur eine Armeslänge entfernt. Jakob weiß das, obwohl er sich den Gedanken an Freiheit nur noch selten erlaubt. Seine Erinnerung versagt ihm den Dienst. Wann er das letzte Mal frei war, vermag er nicht zu sagen. Die häusliche Stille scheint ihn seit einer Ewigkeit zu begleiten, so wie der gekreuzigte Heiland an allen vier Wänden des Raumes seit einer ununterbrochenen Ewigkeit hängt. Manchmal fühlt Jakob die Blicke des holzgeschnitzten Gesichts. Sie folgen ihm von Wand zu Wand, mahnen ihn, sich nicht sehen zu lassen.
Während der Asphalt langsam in der kalten Sonne trocknet, rauscht ein Wagen über den toten Hasen hinweg. Jakob zuckt zusammen, die Kettenglieder spannen sich. Ein stechender Schmerz fährt ihm durch den Knöchel bis unter die Kopfhaut, als die Haustür zufällt.
Schnell rafft Jakob die Kette, so leise wie sich Eisenketten eben raffen lassen, schleicht in gebückter Haltung in die Ecke des Raumes, die am weitesten von der schmutzigen Scheibe entfernt ist. Jakob betet, sie möge seinen Schatten nicht gesehen, die Bewegungen nicht gehört haben, als er auf der modrigen Matratze die Arme um spitze Knie schlingt.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss der Haustür. Sie schließt immer ab. Zweieinhalb Umdrehungen lässt sie den Schlüssel machen, um sicherzugehen. Der Junge kann nicht aus seinem Zimmer fliehen. Sie weiß das. Dennoch will sie sichergehen. Auch Eisen kann brechen. Und sie sieht den Augen des Jungen, dass er noch manches Mal an das Fliehen denkt. Sie hat sich vorgenommen, ihn für diese Gedanken zu bestrafen. Er muss lernen zu gehorchen. Kinder müssen gehorchen. Sie hat es gemusst, der Junge muss es lernen. Mit festen Schritten geht sie durch den Flur. Auf der anderen Seite der Wand zuckt Jakob zusammen. Sie wirft ihren Mantel über einen alten Stuhl, der seit sie das Haus bezogen hat, im Weg steht. Sie kann sich nicht davon trennen. Jakob hört wie der Mantel sich unsanft über die Lehne legt. Die Metallknöpfe hinterlassen Kerben in dem weichen Holz. Jakob weiß, sie wird in die Küche gehen, bevor sich die Tür zu seiner Kammer öffnet. Jakob beginnt zu zählen. Es ist ein Ritual. Die Tür eines Küchenschranks klappt; eins, zwei, drei. Das Glas schlägt hart auf der Anrichte auf; vier, fünf, sechs. Der Kühlschrank summt; sieben, acht, neun. Sie schenkt sich ein; zehn, elf, zwölf. Jakobs Handflächen sind feucht, seine Kehle trocken. Wieder feste Schritte im Flur; dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Der Schlüssel fährt ungeduldig in das Schloss der Tür. Ein dünner Lichtstrahl, der nicht als Hoffnungsschimmer taugen will, fällt in das dunkle Zimmer. Nur für einen kurzen Moment, bevor sich die Tür hinter ihr schließt. Sie mustert Jakob in seiner Haltung. Er weiß, er sollte die Arme von den spitzen Knien lösen. Er sollte sich aufrichten, sie begrüßen. Er weiß, tut er es nicht, wird sie ihn bestrafen, und ist doch unfähig eine einzige Bewegung auszuführen. Sein Körper ist starr, will ihm nicht gehorchen. Sechzehn, siebzehn, achtzehn. Der Stock kracht gegen seine Rippen. Jakob weiß, es werden weitere Schläge folgen, so lange bis er sich mühsam aufrappelt. Es ist ein Ritual, festgeschrieben seit Anbeginn seines Lebens in diesem Haus. Sie betritt sein Zimmer nie ohne den Stock. Jakob spürt den Schmerz der Schläge an manchen Tagen kaum noch. An anderen Tagen treffen sie ihn wuchtig. Sie spricht nicht ein Wort. Aus gefrorenen Augen sieht sie auf das ungehorsame Elend zu ihren Füßen hinab. Würde der Junge nur ein einziges Mal tun, was sie von ihm erwartet. Sie müsste ihn nicht schlagen, denn sie tut es wahrlich nicht gern. Der Junge versteht das nicht. Blickt sie an, mit diesen aufmüpfigen Augen, die nach Freiheit schreien. Heute hat er nicht einmal den Respekt, unter ihren Schlägen zusammen zu zucken. Sie holt erneut aus. Ihre Hand greift den Stock fester. Würde der Junge doch endlich aufstehen, sich rühren. Sie könnte aufhören. Jakob versucht nicht, sich zu schützen. Sie wird irgendwann damit aufhören. Das tut sie immer, irgendwann. Dann geht sie. Stunden später wird sie ihm etwas zu essen und die Bibel bringen. Jakob darf die Bibel nicht behalten. Sie verlangt, dass er darin liest. Genau eine Stunde, während des Essens. Sie wird ihn mit diesen gefrorenen Augen ansehen. Es ist ein Ritual. Wie das Zählen.

 Als Jakob sich erhebt, langsam und gebückt, trifft ihn ein letzter Schlag auf den Rücken. Seine Kiefermuskeln verspannen sich, damit der Schrei nicht in die muffige Zimmerluft entweicht. Jakob weiß, dass er nicht schreien darf. Sie wird wütend, wenn er schreit. Endlich. Sie stellt den Stock an die Wand. Sie ist kleiner als Jakob. Hätte er den Mut, er könnte sie überwältigen. Die Glieder seiner Kette reichen. Jakob ist nicht mutig.  

Fundstücke


Die Fassade des Hauses schien einst strahlend weiß durch die Efeuranken, die sich im Laufe der Jahre unverrückbaren Halt im Mauerwerk gesucht hatten. In regelmäßigen Abständen waren sie zurückgeschnitten worden, hatten sich jedoch in ihrer Sturheit und im Wachsen nicht beirren lassen. Mit den vergehenden Jahrzehnten ergraute die Fassade hinter den grünen Efeuranken. Und so stand Edgar in Gummistiefeln, die ihm eine Nummer zu groß waren, so dass er mit jedem Schritt einen unangenehm quietschenden Ton in der Gartenluft zurück ließ vor dem grauen Haus, das ihm in den Tagen seiner Kindheit so viel imposanter erschienen war.
Seine kalten Hände klammerten sich um das Metallgestell, das vor einer ungeheuren Ewigkeit die Schaukel gehalten hatte, von der er seine Schwester mehr als nur einmal herunter schubste. Manches Mal hatte seine Großmutter schwungvoll das Küchenfenster aufgestoßen, die Arme mehlbedeckt, und ihn zur Ordnung gerufen. Rücksicht solle er nehmen, vernünftig sein, sei er doch ihr großer Junge, der ihr liebste Enkel. Den Griff fest um das Metall gelegt, lächelte Edgar bei dem Blick auf das Küchenfenster, erwartete fast, es würde sich jede Sekunde öffnen. Hinter dem Fenster, das wusste Edgar, lag die verwaiste Küche. Die Erinnerung abschüttelnd, löste er sich von dem Metallgestell, wankte haltlos mit quietschenden Schritten auf die Eingangstür zu, an der noch immer der schwere Türklopfer hing, ein aus Messing gefertigter Karpfen. Langsam fuhr Edgar mit dem Zeigefinger die Linien der Schuppen des Tieres nach. Der Wind unter dem Vordach fuhr ihm sanft durch das schwarze Haar, wie es die Hand des Großvaters zuweilen getan hatte.
Mit einem Ruck öffnete Edgar die Tür. Vor ihm breitete sich die Diele aus. Beherzte Schritte führten ihn vorbei an der mit einem Laken abgedeckten Kommode, auf der die Familie in silbernen Rahmen eingesperrt die Besucher zu empfangen pflegte. Das Haus, das ihm so vertraut war, schien ihm unvermittelt fremd. Mit jedem quietschenden Schritt verlor sich Edgar mehr in Erinnerungen, die nicht mehr zu diesem Ort passen wollten. An den kahlen Wänden zeugten Ränder auf der Tapete davon, dass dort in helleren Tagen Gemälde gehangen hatten. Flüchtig blickte Edgar in das Wohnzimmer, in dem er so oft vor dem Kamin zu den Füßen seines Großvaters gesessen hatte. Der alte Mann hatte ihm Geschichten erzählt von Riesen, Drachen und mutigen Prinzen, die dazu geschaffen waren, eine erfundene Welt zu retten.
Sei ein Prinz. Hatte der Großvater ihm am Ende jeder Geschichte gesagt und Edgar hatte ernsthaft genickt, obwohl er nicht wusste, wie er es anstellen sollte, ein Prinz zu sein. Er ließ sich von seinem Großvater zu Bett bringen und sein kindliches Herz traute sich doch nicht, den alten Mann zu fragen, wie er zu einem Prinz werden könne.
Mit jedem Jahr, das verging wurde Edgar stärker und der alte Mann zerbrechlicher. Edgar sah mit an, wie die Hände seines Großvaters zu zittern begannen. Beobachtete, wie dem alten Mann die Erbsen von der Gabel fielen und sein Stolz zu brechen drohte. Edgar bemühte sich, den Großvater nicht spüren zu lassen, dass der Verfall so deutlich war. Er hielt kaum aus, der Verwandlung des starken Mannes, der ihm Vorbild und Ratgeber, Vertrauter und Freund gewesen war, in stiller Hilflosigkeit beiwohnen zu müssen. Edgar haderte mit dem Schicksal, während die Geschichten vor dem Kamin wirr wurden. Sie handelten schon lange nicht mehr von Drachen oder Riesen, sondern von Kriegen und Kämpfen einer realen Welt. Und doch hielt der Großvater an seinem Ratschlag fest:
Sei ein Prinz.
In einer Dezembernacht ertrug Edgar die Nähe zu seinem Großvater nicht länger, packte eine Reisetasche und verließ das unter dem Efeu grau schimmernde Haus. Er hinterließ keinen Abschiedsgruß, obwohl er sicher war, dass ein Prinz, wäre er schon geflohen, genau das getan hätte. Edgar bereiste die Welt, die Reisetasche immer auf der Schulter, den Blick rückwärtsgewandt, kämpfte er mit den Drachen und Riesen in seinem Inneren. Er schlich im Busch Australiens durch das Unterholz und wanderte über zahllose Sandkörner in den Wüsten der Erde, bis seine Füße blutig waren und seine Haut in sonnenverbrannten Fetzen hing. Die Schuld aber wollte ihn nicht freilassen. Er wusste zu genau um seine Feigheit.
Stets war er mit den Gedanken bei dem grauen Haus unter den Efeuranken, fragte sich, ob sie zurückgeschnitten werden müssten, ob die Schaukel im Garten noch stünde und sein Großvater Geschichten erzählte, alleine vor einem Kamin, in dem niemand mehr das Feuer schürte.
Die Riemen der Reisetasche schnitten ihm tief ins Fleisch als ihn die Nachricht erreichte, sein Großvater sei eingeschlafen und einfach nicht mehr aufgewacht. Edgar saß auf einer Bordsteinkante in einer fremden Stadt, deren Name ihm entfallen war oder den er nie gekannt hatte, schlug die Hände vor die weinenden Augen und riss sich das schwarze Haar in Büscheln aus. Ein Windhauch strich ihm über den Rücken, wie es in Kindertagen die Hand seines Großvaters getan hatte. Und Edgar nahm sich zusammen, schulterte ein letztes Mal die Reisetasche. Und stand plötzlich in der Diele grauen Hauses, quietschende Gummistiefel an den Füßen und Dämonen im Herzen, die ihn zu Boden ringen drohten.
Edgar sog die verlebte Luft der Wände um ihn herum ein, straffte die Schultern und schritt die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die fünfte Stufe ließ er automatisch aus. Sie knarrte und er hatte sich in einem anderen Leben angewöhnt, sie zu überspringen. Vorsichtig, nahezu bedächtig, öffnete er die Tür zu dem Zimmer, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Über das schmale Bett war ein Laken geworfen worden, die Schranktüren waren fest verschlossen. Edgar setzte sich auf die Fensterbank, sah hinaus in den Garten. Das Metallgestell ragte ihm trostlos entgegen. Wie lange er dort am Fenster gesessen und hinausgesehen hatte, vermochte er nicht zu sagen. Die Erinnerung an die glücklichen Tage, an denen er mit seiner Schwester über den Rasen, der nie ein englischer gewesen, sondern von Gänseblümchen und Löwenzahn durchzogen war, wollte sich nicht wiederfinden lassen und so wandte Edgar seinen Blick zurück in das kleine Zimmer, streifte über das Bett, an dem Bauernschrank vorbei und blieb schließlich an dem Schreibtisch hängen, an dem er Stunde um Stunde über den Rätseln der Integralrechnung gebrütet hatte. Wie über alle Möbel war auch über den Schreibtisch ein Laken geworfen worden. Seine Schwester hatte ganze Arbeit geleistet. Edgar pfiff leise anerkennend durch die Zähne, verließ das Zimmer in der festen Absicht nicht mehr zurückzusehen.
Unschlüssig stand er vor der Tür hinter der sich das Zimmer seines Großvaters befand. Aus dem letzten Winkel seines Selbst kratzte er einen Funken Mut zusammen und drückte die Klinke hinunter. Der Geruch des alten Mannes hing über dem Dielenboden wie dichter Nebel an einem Novembermorgen über den Spitzen einer Bergkette hängt. Edgar spürte den brennenden Wunsch, sich einmal mehr davon zu stehlen. Er verbot sich dieses eine Mal das Fortlaufen, heftete seinen Blick auf das Bett, in dem der alte Mann seinen letzten Atemzug getan hatte. Das Licht war fahl geworden. Vor dem grau schimmernden Haus löste der Abend langsam den späten Nachmittag ab. Edgar kniff die Augen zusammen. Auf dem Laken, dass seine Schwester auch über dieses Bett hatte werfen lassen, am Kopfende des Bettes, lag ein Umschlag. Edgar trat näher heran. Mühelos erkannte er die geschwungene Handschrift seines Großvaters. In sauberen, mit einem Füllfederhalter gemalten Lettern las er seinen Namen auf dem blendend weißen Umschlag.
Unwirklich schien ihm der unerwartete Gruß des Toten. Sein Herz schlug in seine Magengrube durch, ballte sich zu einem Knoten aus Angst und Übelkeit. So oft hatte Edgar daran gedacht, was die letzten Worte des alten Mannes an ihn gewesen sein hätten. Zwiesprache hatte er mit ihm gehalten, abertausende Kilometer entfernt. Nun, da er in Händen hielt, durch einen Zufall gefunden hatte, was der alte Mann ihm noch zu sagen hatte, wollte er nichts davon lesen. Edgar drehte den Umschlag in den Händen, bereit ihn in kleine Stücke zu zerreißen. Er war sich sicher, die Zeilen im Inneren konnten nichts anderes enthalten als buchstabengewordene Schuldzuweisungen. Wie, fragte Edgar sich seit seinem Aufbruch in jener Dezembernacht, sollte der alte Mann ihm je verzeihen können, was er sich selbst nicht nachzusehen vermochte. Seine Hände weigerten sich dem Befehl Folge zu leisten, das wattierte Papier in unleserliche Streifen zu verwandeln.
Edgar setzte sich auf die Bettkante, auf der er als Kind häufig Trost gesucht hatte, konnte er nicht schlafen, jagten ihn beängstigend gesichtslose Schattengestalten durch seine Träume. Die Fenster des grau schimmernden Hauses waren fest verschlossen und doch spürte Edgar wie ein leiser Luftzug ihm sanft um die Schultern strich, für einen kurzen Moment, so wie es die aufmunternd ermutigende Hand seines Großvaters oft getan hatte. Edgar hieß sein Herz den Schlag zu verlangsamen, atmete den Geruch des Zimmers, des alten Mannes mit ruhiger Innbrunst ein. Seine Hände öffneten bedächtig den Umschlag, zogen den sorgsam gefalteten Briefbogen hinaus. Im Garten wirbelte das Laub um das alte Metallgestell, eine Tür schlug zu. Edgar saß versunken über dem Bogen Papier in seinen Händen. Die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt lasen seine zusammen gekniffenen Augen einen einzigen Satz, unverkennbar in der Handschrift seines Großvaters geschrieben:
Du bist mein Prinz.
Seine Schwester fand Edgar zusammen gesunken auf der Bettkante sitzend vor. Die Tinte auf dem blendend weißen Papier war von heißen Tränen verwischt. Leise nahm sie ihren Bruder am Arm, führte ihn aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Die fünfte Stufe ließen sie aus. Die Gummistiefel quietschten auf dem Weg durch den Garten, vorbei an dem alten Metallgestell. Edgar ließ sich bereitwillig führen, stützte sich auf seine Schwester, die er so oft von der Schaukel geschubst hatte. Fest an die Brust gedrückt hielt er den verwischten letzten Satz des alten Mannes, der ihm über sein Leben hinaus die liebende Treue gehalten hatte.

 Als sich das Gartentor hinter ihnen schloss, fand Edgar seinen ureigenen Frieden und blickte nie mehr zurück.