Ruths Schädel pocht als sie aus halb geöffneten Augen an die
Zimmerdecke, deren Anstrich einst vielleicht weiß war, inzwischen
aber ein rauchgelbes Kleid ist, durchzogen von Wasserflecken und
Schimmelinseln, und dann an sich herunter sieht. Sie liegt auf einer
alten Matratze, die zu weich ist für ihren von Übergewicht
geschundenen Rücken unter einem dünnen Laken, einen pelzigen
Geschmack auf der Zunge.
Mit der linken Hand reibt sie sich den Schlaf aus den Augen, um den
Blick zu schärfen für eine Umgebung, von der sie sicher ist, dass
sie sie nicht wahrnehmen will, als sich neben ihr etwas bewegt. Ein
Fuß stößt mit ihrem Bein zusammen. Als der nicht geschnittene,
ungepflegte Nagel des kleinen Zehs ihre Wade streift, unterdrückt
sie einen angewiderten Schrei, saugt die verkaterte Luft zu tief in
ihre von reichlich Zigaretten verbrauchten Lungenflügel und setzt
sich auf.
Wie der Mann, auf dessen Matratze sie sitzt, heißt, hat Ruth
entweder über das dritte Glas billigen Rotweins vergessen oder nie
gewusst. Angestrengt versucht sich ihr Kopf daran zu erinnern, was
sie in dieses Zimmer gebracht hat. Ruth ist 19 Jahre alt an diesem
Morgen im Spätherbst 1988. Sie ist weit davon entfernt, als
klassische oder überhaupt irgendeine Art von Schönheit zu gelten,
wie ihre Mutter nicht müde wird, ihr zu
versichern. Die grünen Augen stehen zu eng über der kleinen
Nase zusammen, verdeckt von buschigen Brauen, die Ruth von ihrem
Vater geerbt hat. In dem runden Gesicht verschwinden die schmalen
Lippen fast ungesehen. Ruth ist nicht schön. Eine unglückliche
Mischung verschiedener Gene mit Doppelkinn. Ihr kleiner Körper
versinkt fast in sich selbst, so sehr liebt Ruth es zu essen, dass
sich über die Jahre Polster um Polster um ihre Knochen winden.
Manchmal scheint es Ruth ein Segen, wenn sie in ihrem Kinderzimmer
sitzt, dessen Einrichtung sich nicht verändert hat, seit sie 5 war.
Rosafarbene Wände, ein Himmelbett, ein Schloss hat ihr Vater ihr auf
die Raufasertapete gemalt, einen Ort zum Träumen, bevor er ging und
niemals zurückkehrte; ihre Mutter über dem Bett einen großen Nagel
in die Wand schlug und dran das Bild der heiligen Maria hing.
Ruth zuckt erneut zusammen. Eine gewaltige Welle Abscheu spült über
sie hinweg. Der Fremde neben ihr sabbert ungerührt über seinen
Drei-Tage-Bart, der ihr gestern noch anziehend erschien, in das
Kopfkissen, dessen orangener Bezug vor Monaten hätte gewaschen
werden müssen.
Ruth setzt leise einen Fuß auf den Boden, wuchtet ihren kleinen,
runden Körper so vorsichtig sie kann aus dem Bett, suchend tasten
ihre Hände nach der hastig abgeworfenen Kleidung. Sie betet, der
Fremde möge nicht aufwachen, ihr die Peinlichkeit ersparen, ihn bei
Tageslicht ansehen zu müssen, angesehen zu werden. Was sie gedacht
hat, in dieser Bar, halb versteckt hinter dem billigen Rotwein in
einem langstieligen Glas, das weder zu Ruth noch zu dem Wein passen
wollte, erinnert sie nicht mehr. Dunkel glaubt Ruth zu wissen, dass
ihre Hand sachte den zu engen Rock ein Stück über das Knie
geschoben hat, während der Fremde, der jetzt in sein
heruntergekommenes Kissen sabbert, zu ihr herüber oder vielleicht
auch nur vage in ihre Richtung gesehen hat. Ein wenig mag sie den
Hals gestreckt, das blonde Haar aus der Stirn gestrichen haben. Ruth
ist keine Verführung, nicht eine sinnliche Rubens-Figur. Das schiefe
Lächeln, die wenigen Gesten, an denen Ruth spätestens scheitert,
versucht sie die wulstigen Knie damenhaft übereinander zu bringen,
hat sie sich aus Filmen abgeschaut. Der Fremde ist zu ihr herüber
gewankt, hat ein halbes Bier auf dem Weg verschüttet, sich dann auf
der Tischkante abgestützt und Ruth verschwommen angesehen. Der
Fremde schnarcht, Ruth greift hastig nach ihren Schuhen. Der Fremde
hat ein weiteres langstieliges Glas für Ruth bestellt, zusammen mit
einem Schnaps und eine schwitzige Hand ungeschickt unterhalb ihres
Rocksaumes platziert. Je mehr Wein Ruth trinkt, desto höher schiebt
die schwitzige Hand ihren Rock das Bein hinauf. Ruth versucht zu
lächeln, die Nacht taucht langsam in dunkelrote Alkoholschwaden,
durchzogen von einem leichten Gefühl der Übelkeit. Ruth achtet
nicht darauf, der Fremde sieht sie durch seine verschwommenen Augen
an. Belanglos, voneinander gelangweilt, werfen sie sich mit schwerer
Zunge Sätze zum Fraß vor, von denen sie wissen, dass sie sofort
vergessen werden. Als der Fremde langsam aufsteht, sieht Ruths rundes
Gesicht zu ihm hinauf, während ihre Hände an dem Bemühen
scheitern, den engen, mit fremdem Schweiß getränkten Plastikrock
herunter zu streichen. Ein Teil von ihr weiß, sie sollte den Fremden
gehen lassen. Doch als der Fremde sie ohne Widerspruch zu dulden aus
ihrem Stuhl zieht, lässt Ruth ihn bereitwillig gewähren. Sie hat
diese Bar betreten, um zu fliehen. Vor einer Mutter, die bettlägerig
auf ihre Hilfe angewiesen ist, deren Stimme heiser ist von
geschrienen Demütigungen. Vor einem rosa Mädchenzimmer, das ebenso
wenig zu ihrer Seele passen will wie das erzwungene Gebet jeden
Abend. Ruth will sich an diesem Abend lebendig fühlen. Sie bekommt
nicht viele Gelegenheiten, zu spüren, dass sie lebt und nicht nur
die Erwartungen erfüllt, die an sie gestellt werden. Fremde sehen
sich nicht nach ihr um. Ihre Schüchternheit versperrt ihr den Weg zu
jeglichen Gesprächen. Der Mann mit dem Drei-Tage-Bart und dem
verschwommenen Blick stört sich nicht daran, dass Ruth weder sich
selbst schön findet, noch schön gefunden wird. Selbstverständlich
gehen sie Arm in Arm und doch unrhythmisch neben einander her. Die
kleine Gasse ist schlecht beleuchtet. Ruth denkt kurz an die
Warnungen ihrer Mutter, wenig liebevoll, immer mit dem Zusatz
vorgetragen, sie seien unnötig, niemals würde Ruth in eine solche
Lage geraten. Auch deshalb ist sie an diesem Abend aus dem
mütterlichen Haus geflohen. Um zu beweisen, dass diese Warnungen
sehr wohl berechtigt ausgesprochen und einzig der schmerzhafte Spott
unnötig war. Der Fremde zieht Ruth eine Treppe hinauf und ihr kurz
darauf den Rock herunter. Ruth schließt ihre Augen, atmet an den
Bierschwaden vorbei, die der Fremde ausstößt.
Sie windet sich unter unbeholfenen Berührungen. Der Fremde begehrt
sie nicht. Ruth ist keine Frau, die ein Mann begehrt. Ruth ist eine
Frau, die benutzt wird. Wenn sie ihren Zweck erfüllt hat, darf sie
gehen. Niemals huldvoll entlassen, stattdessen vom Hof gejagt. Ruth
weiß das. Ihre Mutter behauptet, Bedürfnisse sind eine Schwäche
des Charakters. Ruth müsse stark sein, sich besinnen. Heute Nacht
will Ruth sich nicht besinnen. Obwohl sie weiß, dass am Morgen
schamvolle Reue auf ihr liegen wird, wie jetzt der schnaubende
Fremde. Das Gewicht wird das gleiche sein. Den Fremden wird sie
abwaschen; das Gewicht der Gefühle nicht.
Ruth verlässt das Zimmer ohne sich noch einmal nach dem Fremden
unter dem Laken umzusehen. Fast bedächtig schließt sie die Tür,
schlüpft im Hausflur in ihre Schuhe und hastet das Treppenhaus
hinunter, dem das Tageslicht ebenso wenig schmeichelt wie ihr. Der
Versuch das Unbehagen, das mit jedem Schritt zunimmt, mit einem zu
heißen Kaffee zu verbrennen, misslingt. Ruth weiß, was sie Zuhause
erwartet. Ihre Mutter wird zu brüllen beginnen, sobald Ruth die
Haustür aufgeschlossen hat. Nach dem Frühstück wird sie schreien,
nicht ohne Ruth zu beschimpfen, weil sie die ganze Nacht
fortgeblieben ist. Eine Erklärung wird die alte Frau fordern, aber
sie nicht anhören. Während Ruth ihr Kissen aufschüttelt wird sie
den fleischigen Arm ausstrecken, ihre scharfkantigen Fingernägel
werden sich in Ruths Haut bohren. Sie wird die Zähne aufeinander
beißen und nicht wimmern, die Nägel werden sich immer tiefer in das
Gewebe graben, während die alte Frau Worte zu Ruths verbissenem
Gesicht hinauf spucken wird. Sie sei selbst schuld daran, wird sie
sagen. Dankbar solle sie sein, dass es der alten Frau nicht möglich
ist, aufzustehen. Ruth erinnert sich gut, als ihre Mutter noch die
Kraft hatte, das Bett zu verlassen. Der Rohrstock steht inzwischen
unerreichbar, mahnend gleich neben der Zimmertür. Eine verruchte,
abscheuliche Gestalt wird sie Ruth nennen, nicht besser als es Huren
sind. Sie wird Ruth zwingen zu beten, laut. Und sie wird lachen,
dieses grauenhaft kehlige Lachen, bis ihr die die Luft ausgeht.
Bleischwer schleppt Ruth ihre Glieder dem Haus und ihrem
tatsächlichen Leben entgegen. Die Bemühungen, sich für den Rest
dieses und den Rest aller Tage zu wappnen, werden scheitern. Ruth
weiß das. Es gibt für sie kein Entkommen, nicht so lange die alte
Frau da in ihrem Bett liegt, ihre scharfkantigen Fingernägel, die
Ruth mit so wenig Liebe wie möglich einmal wöchentlich schneidet,
in die Haut ihres Armes gräbt. Oft träumt Ruth, sie nähme das
Kissen in ihre Hände. Nicht um es aufzuschütteln, sondern um es der
alten Frau auf das speckig glänzende Gesicht zu drücken. Das
kehlige Lachen darunter zu ersticken. Ruth würde das Kissen mit all
ihrer Kraft auf dem verhassten Gesicht halten, bis der wunde Körper
auf der durchgelegenen Matratze still da läge. Sie würde den
Erinnerung an die einst liebevolle Hand, die über ihren Kinderkopf
strich, verbieten sich mit den letzten Zuckungen der Glieder einen
Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen.
Ruth stolpert über einen Zweig, der auf dem Gehweg liegt. Kurz
bleibt sie stehen, blickt hinunter auf den Zweig, der aus dem Nichts
gekommen sein muss. An der Straße steht nicht ein Baum in
Sichtweite. Aus der Entfernung könnte man das Stück Holz für eine
sich krümmende Schlange halten. Ruth hebt den Zweig auf. Dreht ihn
in rauen Händen, bis er in zwei ungleiche Teile zerbirst. Als hätte
das Knirschen des Holzes sie aufgeschreckt, setzt Ruth einen Fuß vor
den anderen. Sie bewegt sich mit schmerzhafter Langsamkeit, um das
unvermeidliche hinaus zu zögern.
Der hasserfüllte Flur nimmt ihr die Luft. Vertraute Geräusche tosen
in ihren Ohren, legen jeden Gedanken still. Ruth ist taub. Ihre
Mutter richtet sich ächzend einige Zentimeter auf, präzise Blicke
zerschneiden Ruths Gesicht. Sie schüttelt das Kissen auf. Die alte
Frau vergräbt scharfkantige Fingernägel in Ruths Unterarm.
Ruth
steht neben sich am Bett ihrer Mutter, während ihre Stimme versagt.
Sie solle deutlich sprechen, weisen gebleckte Zähne sie an. Obwohl
sie ohnehin nicht auf Vergebung hoffen könne, belehrt sie das
speckig glänzende Gesicht. Ruths Mutter ist nicht so nachsichtig wie
der Heiland. Ruths Mutter stirbt nicht. Besonders nicht für die
Sünden ihrer Tochter.
Das
Licht fällt aschgrau auf die Bettdecke unter der sich die längst
unbeweglichen Beine der alten Frau abzeichnen. Auf dem Nachttisch
steht eine Vase mit künstlichen Blumen. Staubdeckte Blüten aus
einer Zeit, die längst vergessen ist. Ruths Blick klebt an der Vase,
die stiller Ausdruck ihres Protests ist. Reinigen soll sie die
Blüten. In ihrer Verweigerung dieser einen Geste liegt ihre gesamte
Abscheu vor dem Raum und der darin liegenden Frau. Ein Zwang, dem
Ruth sich nicht unterwirft. Die Mutter hat in diesem Punkt
aufgegeben. Der Staub ist ihr ein Qual. Ruth weiß das.
Als
sie sich aus den Fängen der Mutter löst, will ein seltenes Lächeln
um ihre Mundwinkel zucken. Ruth wundert sich über den Impuls und
gibt ihm erst in der rosafarbenen Beschaulichkeit ihres Zimmers nach.
Die Mutter sieht sie nicht gerne lächeln. Ruth hat das Recht auf
fröhliche Unbeschwertheit verwirkt.
Die Räume liegen drohender
Stille in der fahlen Nachmittagssonne, während draußen Kinderlachen
tönt. Ruth steht am Fenster und sieht auf die fremde Welt vor dem
Haus. Das Freibad auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat
geschlossen. In dem Becken sammeln sich Blätter, die der Wind von
den Bäumen gezerrt hat. Verloren in der Betrachtung der Blätter
durchzuckt sie eine Erinnerung. Die fleckige Zimmerdecke des Fremden.
Ruths kleiner Körper schüttelt sich, doch das Bild bleibt haften.
Sie schließt die Augen. Die Flecken der Zimmerdecke nehmen die Form
von Blättern an und tanzen. Hämisch hat es den Anschein. Ruth sinkt
auf das Kinderbett und wartet. Auf die Gnade eines traumlosen
Schlafes.
In
eintöniger Selbstverständlichkeit vergehen die Tage, werden zu
Wochen und Monaten. Ruth erlaubt sich keine weiteren Ausflüge. Sie
schüttelt die Kissen ihrer Mutter auf, während die alte Frau
sehnsüchtig auf einen Fehltritt wartet.
Der Plastikrock will
Ruth schon seit geraumer Zeit nicht mehr passen. Sie versucht sich
hin und wieder heimlich hinein zu zwängen. Ruths Körper schwillt
von Tag zu Tag an; sie verhüllt ihn so gut es geht. Der Gedanke an
die Ursache für die Veränderung hat in ihrem Verstand keinen Platz.
Wann immer er sich Gehör verschaffen will, stopft Ruth ihn in die
Tiefe zurück, begräbt ihn unter weiterer Kleidung und Ausflüchten.
Der Mutter ist aufgefallen, dass Ruth sich verändert hat. Noch
unförmiger sei sie geworden. Aber es spiele keine Rolle geifert ihr
das speckig glänzende Gesicht entgegen. Ruth sei innen wie außen
nicht liebenswert. Wenn die Mutter sie nicht lieben könne, wie wolle
sie erwarten, dass ein Fremder dazu in der Lage sei. Das kehlige
Lachen klingt durch den hasserfüllten Flur, als vor dem Fenster das
Kinderlachen im ersten Schnee stirbt.
Der
Morgen verkleidet sich als Nacht, die Dunkelheit will der schwachen
Wintersonne nicht weichen. Ruth erhebt sich mühsam und fühlt einen
Tritt in ihrem Inneren. Ein Krampf, sie hat am Vorabend zu spät
gegessen. Es ist nichts weiter als ein Krampf. Leise wickelt sie sich
in die Kleidung, die sie sorgsam auf dem Schreibtischstuhl zurecht
gelegt hat. Sie nimmt ihre Tasche und verlässt das Haus. Auf kalten
Füßen geht sie, darauf bedacht nicht zu fallen, zur Bushaltestelle,
wie sie es nunmehr dreimal wöchentlich tut. Der Bus bringt sie bis
zu ihrer neuen Arbeitsstelle, hält gleich vor der Tür. Das
Bürogebäude sieht wie üblich mit seiner abweisenden Glasfassade
auf sie herunter, Ruth greift ihre Tasche fester.
Sie leert
Papierkörbe und wischt über Schreibtische, auf denen Bilder von
glücklichen, reichen Familien stehen. Kleine blondgelockte Mädchen,
die Vaters ganzer Stolz sind und Bengel, die ihre Zahnlücken an der
Hand der freudestrahlenden Mutter dem Fotografen präsentieren. Neben
perfekt angeordneten Schreibutensilien stehen diese eingerahmten
Bilder von perfekten Familien, in denen niemand Kissen aufschütteln
oder fremde Schreibtische wischen muss. In Ruths Innerem tritt sie
etwas. Das ist nur der Wunsch, diese Bilder in die Papierkörbe zu
fegen, so dass die passend ausgesuchten Rahmen zerspringen; das Glas
das Fotopapier in Fetzen reißt. Es ist nichts. Weil es nichts sein
darf.
Trotzig wischt Ruth über das letzte Sideboard des
Morgens, still steht sie da. Besieht sich ihr Werk, als sie einen
neuerlichen Tritt spürt. Sie legt die linke Hand bestimmend auf
ihren geschwollenen Leib. Unwillkürlich übt ihre Hand Druck aus. Es
ist nichts.
Ruth
sitzt auf einer Parkbank. Nur ein paar Gehminuten entfernt liegt die
Arztpraxis. Im Wartezimmer hat Ruth ihre Zeit veratmet. Zwischen
strahlenden Frauen hat sie gesessen. Ruth hat irgendwo gelesen, dass
Schwangere von Innen leuchten. Ruth leuchtet nicht. Ruths Inneres ist
so schwarz wie ihre Kleidung. Schwarz geht unter, ist unauffällig.
Ruth will nicht auffallen. In einer Ecke des Wartezimmers steht eine
Kiste mit Spielsachen. Fröhliche Plastiklaster; Holzklötze, die zu
Türmen werden wollen. An diesem Dezembernachmittag liegen die
Spielsachen unberührt in der Kiste.
Eine
schlanke Frau ruft ihren Namen. Ruth nimmt ihren Blick von den
Holzklötzen, erhebt den schwerfälligen Körper, schiebt die rauen
Hände tiefer in die Taschen ihres Mantels. Die schlanke Frau winkt
Ruth ihr zu folgen; führt sie in einen Raum, an dessen Wänden
lächelnde Kindergesichter hängen. Sie solle Platz nehmen, sich noch
einen Augenblick gedulden. Ruths Kehle schnürt sich wie von selbst
zusammen. Ihr Mund will Worte formen und doch nicht aussprechen. Die
schlanke Frau steht fragend in der Tür. Ob sie sich nicht wohl
fühle. Vielleicht ein Glas Wasser. Ruths Kopf nickt. Die schlanke
Frau schließt die Tür. Sie sei gleich zurück. Ruth solle Platz
nehmen.
Die Armlehnen des Stuhls scheinen Ruth zu drohen. Die
Angst kriecht ihre wassergeschwollenen Waden hinauf, weicht ihr
Rückgrat auf. Ruth stürzt. Hinaus aus dem Zimmer, hinaus aus der
Arztpraxis. Hinein in die kalte, klare Luft. Durch den winzigen Park.
Bis zu der Bank. Dem leichten Überzug aus Pulverschnee schenkt sie
keine Beachtung. Sie setzt sich. Die Bank hat keine Armlehnen, droht
ihr nicht. Ruth starrt auf das schmutzige Weiß zu ihren Füßen. Von
Streusalz durchsetzter Schnee. Sie hat den Winter immer gemocht.
Diesen Winter mag sie nicht. Sie fürchtet sich vor seinem Ende.
Ruth
nimmt eine laute Stimme wahr. Jemand ruft ihren Namen. Die schlanke
Frau ist ihr gefolgt. Ruths Blicke suchen nach einem geeigneten
Versteck. Doch da ist nichts, was sie retten könnte. Die schlanke
Frau bewegt sich anmutig auf sie zu. Streckt eine feingliedrige Hand
aus, deren Nägel blutrot schimmern. Die Hand greift sachte unter
Ruths Arm. Zieht sie vorsichtig von der Bank, als wäre Ruth
zerbrechlich. Hysterisches Lachen schüttelt Ruths Körper,
unerwartet plötzlich. Die schlanke Frau blickt besorgt. Ruth streift
die Hand und ihren sachten Griff ab. Sie will nicht gehalten werden.
Es gehe ihr gut, versucht sie zwischen dem Ringen nach Luft und
Tränen zu versichern. Ruth will, dass die schlanke Frau geht. Der
Termin sei ein Irrtum gewesen. Es sei nichts. Sie brauche keinen
Arzt, keine Beratung. Die schlanke Frau glaubt ihr nicht. Ruth sieht
das. Die schlanke Frau kann sie nicht zwingen. Ruth weiß das. Sie
tritt einen Schritt zurück, wischt sich mit dem Ärmel ihres Mantels
über das Gesicht. Um ihre Mitte spannt der Mantel. Die schlanke Frau
hebt die Stimme. Ruth winkt ab. Es sei nichts, wiederholt sie. Ruth
ist erstaunt, wie fest ihre Stimme klingt. Als wären die Worte aus
Stein. Sie überzeugt sich selbst. Die schlanke Frau zuckt mit den
Schultern. Ruth hat den Kampf gewonnen; die schlanke Frau zieht sich
zurück.
Ruth
sieht auf Parkbank hinunter. Im Pulverschnee hat sie einen Abdruck
hinterlassen. Mit rauen Händen wischt Ruth den Schnee von der
Parkbank. Der Abdruck verschwindet langsam. Ein maroder Splitter jagt
Ruth in den Zeigefinger. Ruth spürt das nicht. Ihrer Hände sind
kalt. Ruth spürt auch die Kälte nicht. Etwas in ihrem Inneren
versetzt ihr einen Tritt. Ruth lässt sich in das schmutzige Weiß
vor der Parkbank fallen. Es ist nichts. Ruth fühlt ein Brennen, das
sich über ihr ausbreitet. Es ist nichts. Und dieses Nichts muss
damit aufhören, sie zu treten.
Wie
lange sie im schmutzigen Weiß gelegen hat, weiß Ruth nicht.
Irgendwann hat sich der Nachmittag leise über den einsamen Park
gesenkt. Ruth hat ihren Arm unter den Kopf geschoben und auf das
gleichmäßige Ticken ihrer Armbanduhr gehört. Sie sollte aufstehen.
Ruth weiß das. Ihr Körper versagt ihr den Dienst, will sich nicht
bewegen. Der Splitter in ihrem Finger pocht im Gleichklang mit der
Uhr an ihrem Handgelenk. Sie war ein Geschenk. Ruth erinnert sich an
den Tag im Einkaufszentrum. Es war ein Samstag. Ihr Vater hatte sie
wecken wollen. Ruth saß bereits angezogen auf ihrem Bett, als er
behutsam die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Ruth hatte sich selbst
die Schuhe zugebunden. Minutenlang hatte sie die Schnürsenkel
übereinander gelegt, bis ihre unbeholfenen Kinderfinger eine
Schleife zustande brachten. Ihr Vater hatte es sofort bemerkt, als er
das Zimmer betrat. Gelobt hatte er sie. Seine kluge Prinzessin hatte
er sie genannt. Gemeinsam waren sie leise die Treppe hinunter
geschlichen. Die Mutter schlief bei halbgeöffneter Tür. Sie hatten
gefrühstückt. Der Vater hatte Spiegeleier gebraten. Der Duft von
Filterkaffee hatte die Küche ausgefüllt, war in jede Pore
gekrochen. Ruth liebte den Geruch. Damals. Heute verursacht er ihr
Übelkeit. Nach dem Frühstück hatten sie gemeinsam das Geschirr
abgewaschen. Die Mutter sollte an einem Samstag keine zusätzliche
Mühe mit der Hausarbeit haben. Der Vater hatte liebevoll darauf
bestanden, dass Ruth ihren Teller selbst abspülte. Er hatte ihr
einen Stuhl an die Spüle heran gerückt, sie darauf gehoben. Gelobt
hatte er sie. Seine fleißige Prinzessin hatte er sie genannt. Ruths
Kinderhände hatten gezittert. Sie hatte den Teller fast in die Spüle
fallen lassen. Sie hatten ihre Jacken von dem Garderobenständer im
Flur genommen und waren in den alten Opel gestiegen. Der Vater hatte
sie vorne sitzen und den Radiosender auswählen lassen. Sie solle es
nicht der Mutter erzählen, hatte er ihr eingeschärft. Ruth wäre
noch zu klein, als dass es erlaubt gewesen wäre. Sie hätte auf der
Rückbank sitzen müssen. Die Mutter würde ärgerlich werden und sie
vielleicht nie wieder alleine mit dem Vater in dem alten Opel fahren
lassen. Es sei ein Geheimnis, hatte der Vater eindringlich widerholt.
Ruth hatte genickt und war sich erwachsen vorgekommen. Ruth hatte
viele Geheimnisse mit dem Vater. Die Mutter nicht alles wissen, was
zwischen einem Vater und seiner Tochter geschehe, gesprochen werde.
Ruth war aufgeregt. Sie war noch nie im Einkaufszentrum gewesen. Die
Fahrt dauerte nicht lang. Der Radiomoderator kündigte gerade die
Nachrichten an, als Ruths Vater den alten Opel auf den Parkplatz
lenkte. Gemächlich stellte er den Motor ab, zog die Handbremse an.
Ruths linker Schnürsenkel hatte sich gelöst. Ihre Kinderbeine
baumelten von dem abgenutzten Sitzpolster herunter. Der Vater band
den Schuh neu, strich sachte über die schmale Wade. Sie überquerten
Hand in Hand den Parkplatz, auf dem der alte Opel einsam in der
Morgensonne glänzte. Der Vater achtete sehr darauf, den Wagen zu
pflegen. Jeden Sonntag stand er vor dem Haus, bewaffnet mit einem
weichen Lappen und einem Eimer lauwarmen Wassers. Stunde um Stunde
rieb und wienerte er den Wagen. Nur weil er alt sei, meinte der
Vater, müsse er nicht auch so aussehen. Auf die abgenutzten Polster
hatte er Schonbezüge aufgezogen. Die Mutter mochte sie nicht. Der
Vater entfernte sie. Und die Mutter machte jeden Sonntag dieselbe
hämische Bemerkung. Warum er immerzu an der alten Blechkiste
herumwische, wo doch mit nur einem Blick in das Wageninnere deutlich
werde, dass das Auto seine besten Tage lang hinter sich habe. Den
Schein wolle er wahren, zu mehr sei er nicht in der Lage. Dann ging
sie zurück ins Haus und ließ ihren Mann mit seiner Scham darüber,
sich keinen neuen Wagen leisten zu können allein.
Das
Einkaufszentrum schien Ruth unendlich weit. Sie griff die Hand des
Vaters fester, aus Angst ihn zu verlieren. Ruths Augen weiteten sich
mit jedem Schritt, den sie tiefer in die bunte Einkaufswelt machten.
Im Erdgeschoss gab es einen Bäcker zwischen einer Drogerie und einem
Supermarkt. Aus der Parfümerie gegenüber drang eine unerbittlich
süße Wolke aus verschiedenen Düften, die sich mit der
Kaffeemaschine des Bäckers um die Vorherrschaft des intensivsten
Geruchs stritt. Der Vater kaufte Ruth ein Milchbrötchen. Ruth traute
sich kaum im Gehen davon abzubeißen. Zwischen den bunten
Schaufenstern der Bekleidungsgeschäfte, entdeckte Ruth einen
zurückhaltenden Buchladen. Gerne wäre sie hineingegangen. Ruth
konnte nicht lesen, aber sie sah die Bücher gerne an, steckte ihre
Kindernase zwischen die Seiten, um den Papiergeruch einzusaugen. Ihre
Mutter hatte sie einmal dabei erwischt, wie sie ihre Nase in ein
altes Märchenbuch versenkt hatte. Sie hatte Ruth das Buch aus den
Kinderhänden gerissen. Was sie damit wolle, wo sie doch nicht lesen
könne. Die Mutter hatte verächtlich den Kopf geschüttelt und das
Märchenbuch hatte am nächsten Tag nicht mehr an der gewohnten
Stelle im Regal gestanden. Es war einfach verschwunden. Märchen
seien ohnehin nichts für Kinder, hatte die Mutter gefunden. Wenn
Ruth lesen könne, werde sie ihr schon das passende Buch geben.
Manchmal hatte ihr die Mutter aus der Bibel vorgelesen. Der Vater
hatte dann in der Tür gestanden. Sein Gesicht hatte gesagt, die
Mutter möge damit aufhören. Das Kind sei zu klein, um zu verstehen.
Doch die Worte hatten ihren Weg nicht in den Raum gefunden.
Der
Vater zog sie weiter, der zurückhaltende Buchladen verschwand hinter
dem bunten Tand einer Geschenkeboutique und einem Geschäft für
Tabakwaren. Sie fuhren die Rolltreppe hinauf. Der Vater warnte Ruth
sie möge am Ende einen großen Schritt machen. Fasziniert starrte
sie auf die flach verschwindenden Treppen. Hopp, hatte der Vater
gesagt und Ruths Kinderbeine hatten sich in dem großen Schritt
beinahe verheddert. Der Vater hatte sie aufgefangen. Gleich hinter
der Rolltreppe öffnete ein Schreibwarenladen seine gläsernen Türen,
auf denen die Spuren der Kunden vom Vortag noch zu sehen waren.
Abrücke fettiger Finger hatten ein Muster auf das Glas gemalt. Der
Verkaufskraft schien das nicht aufzufallen. Ruth biss in ihr
Milchbrötchen.
Sie
spazierten durch den ersten Stock des Einkaufzentrums, vorbei an
einer geschlossenen Eisdiele, einem Laden, in dem allerlei
technisches Gerät angeboten wurde und einem Haushaltswarengeschäft.
Im Schaufenster stand prominent ausgeleuchtet ein großer
Messerblock. Für einen Wimpernschlag verkrampfte sich die väterliche
Hand, Ruth zuckte zusammen. Der Griff lockerte sich zu schnell, als
das Ruth ihren Vater hätte fragen können, was er beim Anblick der
Messer dachte. Ruth war sieben Jahre alt an diesem Samstagmorgen im
Einkaufszentrum. Sie war ein empfindsames Kind; die häuslichen
Schwingungen hatten sich längst in ihre Seele gefressen.
Vor
der Auslage eines Schmuckhändlers blieben sie stehen. Ruths Blick
irrte überfordert zwischen den glänzenden Ringen, Armreifen und
Ketten umher, bis er schließlich beruhigt an einer unscheinbaren Uhr
hängen blieb. Ihr Band war aus blauem Stoff, bedruckt mit kleinen
weißen Blüten, in den Zeigern fand sich das blau des Uhrenbandes
wieder und in der Mitte des Ziffernblattes tanzten weitere Blüten.
Die Uhr gefalle ihr wohl, hatte der Vater festgestellt. Ruth hatte
mit trockenem Mund genickt, sich die Hoffnung auf ein Geschenk nicht
erlaubt. Doch der Vater war mit ihr in den Laden gegangen. Ganz
selbstverständlich, als sei er der reichste Mann der Stadt, so hatte
Ruth gefunden, hatte er dem Verkäufer erklärt, er wolle die Uhr im
Schaufenster sehen. Sie gefalle seiner Tochter, hatte er angefügt.
Der Verkäufer hatte skeptisch auf das Milchbrötchen in Ruths
Kinderhand geblickt. Ganz so als könne er sich nicht entscheiden, ob
die Ungehörigkeit, den feinen Laden mit einem Milchbrötchen zu
betreten Grund genug sei, die Bedienung zu verweigern. Ruth hatte das
Milchbrötchen schnell in der Tasche ihres Mantels verschwinden
lassen. Der Verkäufer hatte hörbar geseufzt und die Uhr aus dem
Schaufenster geholt. Sorgsam hatte der Vater Ruth um das
Kinderhandgelenk gebunden. Ruth hatte gestrahlt.
Auf
dem Rückweg hatten sie den ursprünglichen Radiosender wieder
eingestellt. Ruth hatte immerzu auf ihre neue Uhr gesehen. Zeit sei
etwas Kostbares hatte der Vater ihr zugeflüstert, als sei er
besorgt, der Ausspruch könne in die falschen Ohren gelangen. Ruth
hatte genickt, obwohl sie nicht sicher gewesen war, was der Vater
damit gemeint hatte. Als sie zuhause angekommen waren, stand die Tür
weit offen. Die Mutter kehrte den Schmutz der Woche aus dem Flur nach
draußen. Der Vater hatte Ruth einen Kuss auf die Stirn gegeben. Sie
solle der Mutter zunächst nichts von der Uhr erzählen, hatte er
gesagt. Sie solle schon aussteigen und der Mutter bei der Hausarbeit
zur Hand gehen. Er führe noch einkaufen, sei aber bald zurück,
solle sie der Mutter ausrichten. Ruth war folgsam ausgestiegen, darum
bemüht die Freude in ihrem kleinen Kinderherzen genauso zu
verstecken, wie die Uhr an ihrem Handgelenk. Der Vater hatte den
alten Opel gewendet und war die Straße hinunter gebraust. Zeit sei
kostbar, hatte er im Davonfahren gemurmelt. Und sich nie wieder
umgesehen.
Das
schmutzige Weiß ist inzwischen in Ruths Mantel gekrochen. Sie sollte
aufstehen. Ruth weiß das. Die Uhr an ihrem Handgelenk hat inmitten
der Erinnerung aufgehört zu ticken. Als Ruth ihren steif gewordenen
Körper zwingt sich aufzurichten, wünscht sie sich einmal mehr, sie
wäre neben dem Vater sitzend in dem alten Opel die Straße hinunter
gebraust.