Dienstag, 20. September 2016

Edgar und Elena

Wir sitzen. Viel unspektakulärer als sonst. Nicht am Meer, wo sich der Spülsaum über den Sand ausdehnt, unsere Zehen erschreckt und sich dann schüchtern zurück zieht. 
Nicht im Baumhaus, das wir in einem Sommer zwischen den Ästen einer Birke errichteten und das uns als Versteck diente, wenn die Welt sich zu turbulent um ihre Achse drehte, sich Süd- und Nordpol miteinander stritten und aus dem Osten plötzlich der Westwind wehte. 

Wir sitzen. Seit Stunden. An einem Küchentisch, den wir an einer Straßenecke fanden und mitnahmen, weil jemand ein Schild darauf geklebt hatte. "Zu verschenken" stand in fleckigen Buchstaben darauf geschrieben. 
Wir mochten Geschenke, der Tisch war aus altem Holz und wir stellten uns vor, er hatte einer dieser Damen gehört, die ihre Haare in einem zarten Flieder färbten, unabsichtlich, und an jedem zweiten Sonntag im Monat zu Canasta und Portwein luden.
Wir wussten nicht, ob es irgendwo in der Nachbarschaft oder auf der Welt solche Damen gab, aber uns gefiel das Klischee.

Wir sitzen. Zwischen uns ein Kartenhaus. Du hast immer gefunden, Mikado sei ein langweiliges Spiel.
"Hölzchen, die nicht wackeln dürfen und dabei aussehen, als wären sie bestimmt gewesen Bäume zu sein." hast du gesagt und die Missbilligung schüttelte deinen Kopf bis in die Schultern.
Wir haben statt Hölzchen zu ziehen Kartenhäuser gebaut, die wir vor dem Einsturz bewahren wollten. Sachte hast du immer erst die Spitze abgenommen, eine Karte nach der anderen, bis nur noch das Fundament stand. 
Denn das sei das Wichtigste, hast du gesagt. Das Fundament. Auf dem etwas steht.
Tage haben wir damit verbracht, die Karten zu Häusern zu stapeln und abzutragen.
In den Nächten tranken wir Rotwein und sprachen über Nichts wie gleichzeitig Alles, denn du wolltest nicht zu behaupten aufhören, dass Wissenschaft dich ermüde und du von den schönen Künsten nichts verstündest.
Zwischen der abgelaufenen Zeit von damals und dem unbeschriebenen Heute kamst du mit einem Hund nach Hause. 
Er hieße Kopernikus und lege den Kopf stets linksseitig schief, kraulte man seine Ohren, sagtest du. 
Ich wollte erwidern, dass wir keinen Hund halten könnten, inmitten von Bücherstapeln und Kartenhäusern. Aber du hast nur lächelnd da gestanden und die Ohren des Tieres gekrault. 
"Schau doch." hast du gesagt und gelächelt. Kopernikus blieb.

Wir sitzen. Ohne aufzusehen. Das letzte Wort springt auf der Suche nach seinem eigenen Widerhall von über die Fugen der Kacheln, von denen du sagtest, sie seien der Grund, weswegen sich das Leben in unserer Wohnung lohnte. 
Kopernikus legt den Kopf linksseitig schief, währen deine schmalen Finger seine Ohren Kraulen. Du spielst schon lange keine Sinfonien mehr mit diesen Fingern, weil sie zu sehr zittern und sich zwischen den schwarzen wie weißen Tasten des Klaviers verlaufen.
"Heillos." pflegtest du zu sagen, wurdest du gefragt, warum du das Spielen aufgabst.
"Heillos verlaufen sich meine Finger zwischen den schwarzen und weißen Tasten des Klaviers." 

Den meisten Fragenden entgeht die Doppeldeutigkeit. Dich erschütterte das weit weniger, als ich es je verstand.
Du kamst mit bunten Cocktail-Schirmchen nach Hause und ließt sie sich über den Flur verteilen. 
Wenn du selbst nicht mehr tanzen könntest, fandest du, sollten es doch zumindest die Schirmchen in den Gläsern. Falls wir eines Tages eine Cocktail-Party geben wollten, seien wir nun vorbereitet, fügtest du an. Und ich sammelte die Schirmchen ein, dreht das bunte Papier in meinen Händen und erinnerte mich. 
Die Springbrunnen in den Gärten der Stadt spielten eine Melodie. Dein Kleid schwang in der Sommerluft als deine Schritte sich durch den Park bewegten. Man hatte uns eingeladen, neben vielen anderen Fremden, wir kannten uns nicht und waren keine Partygänger. Jemand warf ein Glas Gin um und die Eisskulptur begann zu schmelzen. Abseits stand ich in einer Gruppe, der schlecht sitzende Anzug ließ mich blass wirken. 
Man winkte dich heran. 
Die Vorstellung war knapp, begleitet von einer wenig aussagenden Geste, die eine zwischen unseren Oberkörpern schaukelnde Hand ausführte, die zu einem unserer gemeinsamen Freunde gehören mochte.
"Elena."
"Edgar."

Die Schwingung stellte sich ein und ich unternahm einen kläglichen Versuch, charmant sein zu wollen. 
Eine schlechte Angewohnheit, die du mich bald abzulegen lehrtest.
Mit einem Lächeln, was du mir nicht anrechnen wolltest, brachte ich heraus: "Fast wie Leonce und Lena." Ohne dabei auch nur halbwegs gebildet zu klingen. 
Dein Haar stellte sich im Nacken auf und das leuchtende gelb deines Kleides schluckte für einen Moment die applizierten blauen Punkte.
"Büchner gähnt mich an wie ein leerer Bogen Papier." gabst du mir zur Antwort und ohne Zweifel wusste ich, ich würde dich nie wieder verlassen.
Du aber drehtest dich herum, als wäre es unmöglich, dieses Gespräch zu einem höflichen Ende zu führen und schicktest mir zwei Tage später einen Gedichtband von Ringelnatz.

Wir sitzen. Spektakulärer als sonst. Am Ende einer Flasche Rotwein beginnt die Nacht. Der Tag im Park liegt ein halbes Leben zurück. Deine Finger verlaufen sich zwischen Kopernikus' Ohren.
Und das letzte Wort setzt sich sachte auf das Fundament eines Kartenhauses.
"Elena." hatte ich gesagt und deine heillos verlaufenen Finger gehalten. Kopernikus hält den Kopf linksseitig schief. Und du lächelst, weil in deinem Glas ein buntes Cocktail-Schirmchen für dich tanzt.