Montag, 21. November 2016

Ohne Titel

Ich stehe im Hausflur und habe wieder diesen Ausdruck im Gesicht. Obwohl im Treppenhaus weder Spiegel angebracht sind, noch die Strukturtapete das Abbild meines Gesichtes zurück wirft, weiß ich genau, ich sehe aus verwirrten Augen auf in grau-blaues, sturmblau ist der wohl korrekte Terminus, PVC gekleidete Treppenstufen, während meine Nase sich irritiert rümpft.

Der Grund für die mich plötzlich anfallende Irritation ist der Geruch, der am Geländer bis zum 4. Stock oder sogar auf den Dachboden hinauf klettert. An einem Montagmorgen sollte es im Treppenhaus nach dem Beginn einer neuen Woche, ausgetretenen Sportschuhen oder Bügelwäsche riechen. Oder ohne viel Aufhebens nach Mietshaus. Kaserne. Alten Menschen.

Stattdessen klettert vergnügt der Duft von Biokaffee, leicht verbrannten Aufbackbrötchen und gekochten Eiern, perfekten 3-Minuten-Eiern, am Treppengeländer hoch und an mir vorbei.
Sofort wähne ich mich in einer Fernsehwerbung, erwarte von mir frisch gepressten Orangensaft aus einer mundgeblasenen Karaffe in ein formschönes Glas laufen zu lassen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine reich gedeckte Tafel, ein Sonntagsfrühstück der Extraklasse. Die Dame des Hauses hat selbst daran gedacht, den Schnittkäse mit 3 in Länge und Dicke perfekt zueinander passenden Schnittlauchhalmen zu garnieren. Auf Omas gutem Geschirr, das gerade noch vor den zerstörerischen Kräften des Krieges gerettet worden war, damals war man achtsam, hatte ja schließlich auch nichts, dessen Goldrand im Laufe der Jahrzehnte zusehends verblasste, liegen aus Radischen geschnitzte Rosen.

Während mein geistiges Auge sein persönliches Daumenkino inszeniert, stelle ich fest, Radischen gehören, ob nun zu Rosen geschnitzt oder in ihrer Ursprungsform, weniger auf einen Frühstückstisch als zu einem Brunch. 
Für einen Brunch, bei dem für gewöhnlich alles inklusive ist, nur die Getränke nicht, weshalb man sich an einem Glas irgendeines Saftes und einer Tasse Kaffee, höchstwahrscheinlich nicht Bio, festhält und plötzlich ein staubtrockenes Gefühl die Speiseröhre herunter kriecht, ist es jedoch eindeutig zu früh am Morgen.
Es sei denn, genau wissen kann ich das natürlich nicht, aber es könnte schon sein, hinter der Wohnungstür vor der sich das Duftgemisch aus Biokaffee, leicht verbrannten Aufbackbrötchen und gekochten Eiern, gewitzt auf das Treppengeländer schwingt, lebt ein Rebell im Morgenrock, dessen Füße in pastellfarbenen Plüschpantoffeln stecken. 

Ich versuche dem unvermeidlich aufsteigenden Bild meiner Nachbarn in Morgenrock und pastellfarbenen Plüschpantoffeln gekleidet zu entgehen, indem ich die Treppen in einem dem Montagmorgen ganz und gar nicht angepassten Tempo herunter rase, das Duftgemisch landet zeternd auf den Briefkästen, folgt mir durch die Tür des Hauses nach draußen und löst sich in der Nebelwand zwischen zwei Straßenlaternen urplötzlich auf, als wäre nichts gewesen.
Zweifelnd werfe ich den Blick über die Schulter, zurück in den Aufgang. Bei aller Mühe jedoch, die sich meine zugekniffenen Augen und die entrümpfte Nase geben wollen, kann ich nichts entdecken, das für einen Montagmorgen untypisch erscheinen mag.

Der Aufgang liegt still und duftlos hinter der Tür.
Fast ein bisschen erleichtert, als sei der verwirrende Augenblick im Inneren des Hauses ein Streich gewesen, den mein noch wochenend-müder Geist mir in einem Anflug von missverstandenem Humor zu spielen gedachte, setze ich den Gang in den Tag, begleitet von einem vollkommen normalen Pulsschlag, fort. 

Die mir entgegenkommenden Menschen, wobei sie nicht besonders entgegenkommend wirken, tragen den Winter im Gesicht wie am Leib, obwohl ganz entschieden spät-herbstliche Temperaturen herrschen. 
Vor nicht ganz 72 Stunden fanden sich die Gradzahlen in Kellerräumen, hinter der Weihnachtsdekoration und den längst in Vergessenheit geratenen Kisten, die Spielzeug und Kinderbüchern ein leicht schimmlig-muffiges Zuhause bieten, an. 
Jetzt aber sind die mit Kunstfell ausgeschlagenen Stiefel schon mehr als nur ein modischer Fehlgriff, vielmehr sind sie unangemessen, sorgen gepaart mit den schweren, langen Wollmänteln in gedeckten Farben für unbehagliche Hitzewallungen. 
Der Asphalt dampft unter der unerwarteten Last erhöhter Temperatur.
Schnaubend und wetterfühlig streifen schlecht gelaunte Menschen durch den Morgen. Anstatt die neue Woche, die vierte eines neuen und unverbrauchten Jahres, mit einem Freudensprung zu begrüßen, den gedeckten Wollmantel gegen etwas leichtes, buntes einzutauschen, wie eine pink-gelb karierte Regenjacke. 

Insgesamt ginge es, genau wissen kann ich das natürlich nicht, aber es könnte schon sein, in der Welt ein wenig bunter zu, würden in der so genannten dunklen Jahreszeit, die sich  mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine andere, weniger trostlose Umschreibung für sich selbst ausgedacht haben würde, weniger knöchellange, schwere Wollmäntel verkauft und stattdessen mehr Wert auf frohe Farben gelegt. 
Dann fiele der Freudensprung in diese oder jede andere neue Woche vermutlich auch nicht so schwermütig aus, sondern ginge leicht von den Füßen.

Überhaupt wird viel zu wenig gesprungen. 
Früher sprangen wir in Pfützen oder Bachläufe, wobei ich einsehe, einen Bachlauf mitten in der betonierten Großstadt zu finden ist in etwa gleichbedeutend mit dem Versuch die Welt von Narnia im eigenen Kleiderschrank zu entdecken. Jedoch kein Ding der vollständigen Unmöglichkeit. Wir sprangen von Klettergerüsten und Schaukeln, in ein Abenteuer und das Ungewisse. 

Ich stehe an der Ampel und habe wieder diesen Ausdruck im Gesicht. Obwohl weder die von einem Rest Regen und Nebel nass glänzende Straße das Abbild meines Gesichtes nicht zurückwirft, noch an der Ampel Spiegel angebracht sind, weiß ich genau, ich sehe aus verwirrten Augen auf die gegenüberliegende Seite der Straße, wo ein Mops mit ungerührter Selbstverständlichkeit sein Bein hebt und auf die grau-schwarz getünchten Menschen.
Aus dem Augenwinkel nehme ich ein scheinbar ebenfalls anständig verwirrtes Gänseblümchen wahr, das sich in der Jahreszeit geirrt haben muss, entschließe mich dem Impuls, es mir an den Hut zu stecken nicht nachzugeben. Wer weiß, wo der Mops noch vor wenigen Minuten selbstverständlich war.
Aber gleich morgen, am zweiten Tag dieser vierten Woche eines vollständig unverbrauchten Jahres kaufe ich eine pink-gelb karierte Regenjacke, das Symbol wider der Tristesse, springe mit beiden Beinen voran in ein ungewisses Abenteuer und den nächstbesten Bachlauf der Großstadt, auch wenn er sich als nur eine Pfütze tarnt. 

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