Montag, 21. November 2016

Der Tag an dem Fred Astaire starb

Einleitung
“Wenn alles jetzt ist, ist jetzt für immer." 
Baltasar kehrt den Satz über den Küchentisch, lässt ihn wie einen Seitenwinder zwischen den schweren Rotweingläsern und über stagniertes Kerzenwachs zucken. 
Der Abend verhält sich gewöhnlich, vor der geöffneten Balkontür ist kalter Sommer.

Das plötzliche Schweigen legt einen Teppich für die Erwartung auf eine kluge Antwort aus. 
“Pseudo-intellektuelle Scheiße.” 
Rabea lässt ihren Ausbruch auf den Tisch fallen. Messerscharf trennt er den Seitenwinder in unregelmäßige Teile.
“Wie sind wir so geworden?” Baltasar hebt das schwere Rotweinglas nicht ohne Bitterkeit.

Am selben Abend, auf der anderen Seite der Stadt schließt Uta, alle Sorgfalt vorausgesetzt, den kleinen Kiosk zu. Zweimal dreht sich der alte Bart des Schlüssels knirschend in das passende Schloss. Die Müdigkeit liegt wie eine Stola um Utas elegant geschwungenen Hals. Aus der Ferne, im diffusen Licht einer Straßenlaterne, muss es einem zufälligen Passanten erscheinen, als wollte Uta zu einem Opernbesuch aufbrechen. Das bodenlange Cape, welches sie statt eines Mantels und zu jeder Jahreszeit zu tragen pflegt, hebt sich in nüchternem Grau von schräg liegendem Kopfsteinpflaster ab. Einen verstreichenden Moment steht Uta vor der verschlossenen Tür. Die geraden Schultern trotzig gestrafft, wendet sie sich dann beinahe plötzlich, so dass der zufällige Passant auf der gegenüberliegenden Straßenseite unversehens zusammen zuckt, seitwärts. Die flachen Absätze ausgetretener Schuhe hinterlassen eine geräuschlose Spur unter dem Laternenlicht. Uta sehnt sich unbestimmt. 

“Widerlich hat er mich genannt.” murmelt Hanno in die Leere eines kahlen Lofts. Außer dem Sieb, das eine kleinteilige Kräutermischung in kochendem Wasser gefangen hält, hört ihn niemand. Abwesend streicht Hanno die hemdsärmligen Karos glatt. Die Kräutermischung dampft. 
“Widerlich.” Er will über das Gespräch mit August nicht nachdenken. Der Versuchsaufbau war von vorneherein fehlerhaft, will sich seine gekränkte Eitelkeit einreden. Ein strategisch geplanter Rückzug hatte vor ihm gelegen. Und war ihm doch verwehrt geblieben.
Ein wütender Sturm war über ihn herein gebrochen, vor nicht ganz einer Stunde, zwischen zwei Parkbänken und einem Abendspaziergang. Hanno gießt sich das von Kräutern durchzogene Wasser in eine mit Ankern bemalte Tasse. Der Henkel fehlt. 
“August ist auch nur einer von vielen, die zu sehr auf ihr Äußeres achten.” sagt er sich.

Hauptteil
Das Leben vor dem Baulärm scheint Baltasar zu weit entfernt, als dass er sich erinnern könnte. Der Abriss sanierungsbedürftiger Altbauten findet nur eine Staubwolke entfernt statt. Sechs Uhr neunundzwanzig setzt ihn eine rote Digitalanzeige, lieblos von einem flimmernden Doppelpunkt getrennte Ziffern, ungerührt in Kenntnis. Baltasar drückt sich das daunengefüllte Kissen auf die linke Gesichtshälfte. Seine zugekniffenen Augen mustern Rabeas Silhouette. Unscheinbare Speichelfäden weben ein Muster über ihr Kissen. Die Gummibänder der Schlafmaske ziehen an Rabeas Ohren. 
Unwirsch schlägt er die Decke zurück. 

"Wie kannst du nur bei diesem Krach schlafen?" zischt er über die Schulter. Rabeas REM-Phase verweigert jede Reaktion. 
Baltasar schüttelt das Pochen in seinem Kopf, erdrückt den Hass in sich für den Augenblick. 
Auf der Suche nach seiner Anzughose stolpert er über sorglos abgestreifte Stiefel. Acht Zentimeter hohe Absätze, die ihn am Boden liegend verhöhnen. Der Presslufthammer unterbricht seine Arbeit bei sechs Uhr zweiundvierzig. 
Eine Erinnerung durchzuckt das Pochen oberhalb der Augenbrauen. An staubfreie, wolkenlose Tage, an denen acht Zentimeter nichts und sicher nicht die Welt bedeuteten. 

Er schubst einen der Stiefel unter das Bett. Sie wird mindestens eine halbe Stunde darauf verwenden, danach zu suchen. 
Die kleinen Hässlichkeiten gehören in den Alltag. Lautlos unter Türschwellen hindurch gekrochen, haben sie sich ausgebreitet und täglich an Deutlichkeit gewonnen. 
Baltasar streift den Gedanken an die morgendliche Boshaftigkeit mit den Boxershorts ab.

Wässrige Nadelköpfe treffen seine Schultern und den Rücken, der längst keine leidenschaftlichen Kratzspuren mehr trägt. 
Über die gemeinsamen Jahre ist aus Gewohnheit Gewöhnlichkeit geworden. Rabeas verschlafene Ohren hören das Wasser in den Siphon rinnen. Auf die Ellenbogen gestützt taxiert sie die Tür und sucht in dem dahinter liegenden Flur nach einem Streitgrund. Sie ist nicht wählerisch; der kleinste Anlass wäre ihr genug. 
Baltasar entzieht sich dem ritualisierten Tobsuchtsanfall. Er verlässt die Wohnung grußlos, bewegt sich mit ausfallenden Schritten auf den Baulärm zu. Der Presslufthammer nimmt seine Arbeit gewissenhaft bei acht Uhr siebzehn wieder auf. 

Verlassen schüttelt Rabea das kurzgeschnittene Haar. In der gähnenden Stille der Räume setzt sich die Einsamkeit wütend neben sie. Mit den Jahren wurden sie zu untrennbaren Verbündeten. Um daran etwas zu ändern, hätte sie weit vor diesem Morgen aufwachen müssen. Rabeas Blick fällt auf das eingerahmte Bild einer Hochzeit, die sie nur vage als ihre eigene erinnert.  

“Bist du noch da?“ ruft ihre raue Stimme in den Flur. Auf der anderen Seite der angelehnten Tür antwortet ihr Stille. Digitale Ziffern zeigen, von einem nervösen Doppelpunkt getrennt, acht Uhr neunundfünfzig an. Rabea verschließt ihre Ohren vor dem Baulärm. Ihr staubiges Herz trägt sie vor den Badezimmerspiegel. Einstudierte Bewegungen sichern ihr Überleben in der trostlosen Monotonie zwischen handgefertigter Lavendelseife und einer Küche im Landhausstil.

Rabea stürzt einen Kaffee, wenig Zucker, viel Milch, hinunter und verwendet einunddreißig Minuten drauf, ihren zweiten Stiefel zu suchen. Während Baltasar am anderen Ende der Stadt markige Werbesprüche zu einem Produkt von kapitaler Belanglosigkeit auf ein Storyboard fließen lässt. Er sieht auf den Stift in seiner Hand und stellt sich die drängende Frage, was geschehen könnte, würde er den Mut besitzen, zum Telefon zu greifen, sie anzurufen. Brächte ein einziger Anruf das Lot zurück und könnte er morgen oder am Tag danach, darauf verzichten, ihren Schuh unter das Bett zu schubsen. Die schreckhafte Sekunde vergeht. Der Stift ist nichts weiter als ein Stift und das nächste Telefon steht außerhalb des Raumes unerreichbar weit entfernt.

Die nächstgelegene Turmuhr weist auf die beginnende Mittagszeit hin. Aufgesetzten Prioritäten folgt Baltasar hinunter in den Park, ausfallenden Schritte führen ihn an dem kleinen Kiosk vorbei, hinter dessen Scheiben die stets gleiche Frau sitzt.
“Wie üblich?“ Uta greift hinter sich, zieht mit blinder Sicherheit ein Paket Tabak aus dem Regal, noch bevor Baltasar sich zu einem Nicken entschließt.

Uta sieht ihm nach, wie ihn seine ausfallenden Schritte zurück zu dem Bürogebäude tragen, das eine sich entwickelnde Stadt wenige Jahre zuvor aus dem Boden in die freiflächige Aussicht stampfte. Er erinnert sie.

Der Mittag lässt Uta Zeit.
Der junge Mann ist mit seinen Kaugummis und den bubenhaften Zügen längst außer Sichtweite geschritten. Uta will der Erinnerung  nicht erlauben, sich auszubreiten. Sie rückt Zeitschriften gerade, zählt Sekunden. Ihre vorgeschobene Gelassenheit ist ein Täuschungsmanöver der Umwelt zu liebe. Ihre größte Schwäche, die sie aufrecht hält, die Rücksichtnahme. Die Erinnerung schert sich nicht um Rücksicht, übernimmt stattdessen Utas Bewusstsein. Aus dem schattigen Damals tritt die Begebenheit zurück auf die sommerliche Bühne des Heute. 
Hector lehnt an einem Laternenmast, den linken Fuß vor den rechten gestellt. In ausgebeulten Manteltaschen graben seine Fäuste nach Wärme. Das Frühjahr hält sich für Herbst. Uta sieht ihn dort lehnen, den jungen Mann mit den bubenhaften Zügen. Die Szene mutet in ihrer tatsächlichen Unwirklichkeit schwarz-weiß an.
Ihre Schritte verlangsamen sich in der Betrachtung.     

Hector sieht auf, als sie längst vor ihm steht.
Die Begrüßung passt sich den regenabweisenden Jacken vorbeihastender Passanten an. 
„Komm.“ sagt Hector mühsam beherrscht und greift nicht nach ihrer Hand, wie in den verflogenen Monaten. Die Klarheit darüber, dass sie nicht erfahren will, sich nicht das Geringste verändern soll, erschlägt ihre Gegenwehr. Sie folgt. 

Hectors Schritte lenken sie in eine mögliche Richtung. Trockene Worte stolpern in den zwischen ihnen gehaltenen Abstand.
„In einer anderen Zeit. Oder vielleicht nur unter anderen Umständen. Du weißt, ich bin ungeschickt mit Worten. Es war schön. Aber.“
Utas Hand will sich auf Hectors Arm legen. Ihr Verständnis möchte sie ausbreiten, ihn darin einhüllen, würde er dann nur aufhören zu sprechen. Ihr Wollen erstickt.      

„Zu einer anderen Zeit. Du wärst die Liebe meines Lebens gewesen. Ich bin sicher. Es ist nur. Wie soll ich. Meine Einfälle werden dir nicht gerecht. Ich stehe am Spielfeldrand und sehe dir zu.“
Seine Schritte halten ein. Uta zieht das Cape, welches sie stets, zu jeder Jahreszeit und anstatt einer Jacke zu tragen pflegt, enger um den schmalen Körper. Ihre Hände wissen sonst nichts mit sich anzufangen.

„Es ist vorbei.“ murmelt Hectors trockene Stimme. Uta nickt und ist dankbar, als der junge Mann seine bubenhaften Züge abwendet. 
Zwischen der Erinnerung und den überbelegten Regalen ist der Nachmittag leise fortgeschritten. Uta scheucht den Klang des Damals zurück in den Schatten, fährt mit einem Microfasertuch den Verkaufstresen entlang. Schrill macht sich die geöffnete Tür bemerkbar. Als Utas Schultern sichtbar zusammenzucken, lassen ihre Hände das Microfasertuch verschwinden. 
 Auf der anderen Seite der Stadt entscheidet Rabea sich für einen weinverhangenen Abend. Zu der Kühle des Sommers will Weißwein ebenso wenig passend erscheinen wie zu der Kälte der Küche im Landhausstil. Baltasar bevorzugt Weißwein. In seiner Abwesenheit stellt Rabea demonstrative Rotweingläser auf den Tisch vor der Balkontür. Für einen unscheinbaren Moment schleicht sich die Vermutung an sie heran, es könnte ein schöner Abend werden, würde sie Weißweingläser auf den Küchentisch stellen, dazu ein leichtes Essen. Die Vermutung verscheucht Rabea mit einem rauen Lachen, als sie die Straße betritt.

Das Kostüm der liebenden Ehefrau will ihr nicht stehen. Ungeduldig bahnen sich ihre Stiefel den Weg zwischen den heimkehrenden Büroangestellten hindurch. So sehr ist sie auf den eigenen Vorteil bedacht, dass ihr nicht einfällt, dem Kompromiss Platz zu schaffen. Der Abend klopft an die Pforten der Stadt. Wolkenbänder färben sich orange-rosa.
Hanno bemerkt die schnellen Schritte der blonden Frau zu spät. Schulter an Schulter stoßen sie auf dem belebten Bordstein zusammen. Rotwein kriecht in den Rinnstein. Die raue Stimme bricht fassungslos über Hanno herein.
„Hast du keine Augen im Kopf?“

Eisern halten Rabeas Hände an zwei unversehrten Weinflaschen fest. Die Wut über den zerflossenen Wein verzerrt ihre Gesichtszüge. Hanno sammelt neben dem Inhalt seiner Tasche seine Gedanken vom Boden auf.
 „Es – entschuldigen - “
 „Vergiss es!“ Rabea steigt fauchend über einen Taschenkalender hinweg.
Einen Augenblick sieht Hanno ihr nach, wehrt die helfende Hand eines Fremden dankend ab. Eilig setzt er seine Schritte fort. Ein unbemerkter Fleck spannt sich über die hemdsärmligen Karos.
Im Verborgenen ficht die Unsicherheit einen längst verlorenen Kampf. Eine Ahnung krallt sich in den Hemdkragen, nicht bereit ihren Griff zu lockern.
Wenige Wochen liegt der Tag zurück, an dem Hanno der verzweifelten Versuchung nachgibt. In einem vor unsichtbarem Schmutz starrenden Raum greift er nach der nächsten Hand. Einen letzten Versuch, sich aus dem eingemauerten Leben, das er sich unabsichtlich geschaffen hat, zu befreien, will er an diesem Tag unternehmen. Die Hand begegnet seiner Berührung freundlich, hält sich an ihm fest. Ein warmes Gefühl der Hoffnung durchflutet seinen kleinen Finger, breitet sich gänzlich über den Körper aus. Einige Stunden später, unter dem diffusen Licht einer Straßenlaterne, hält sich die Hand noch immer an Hanno fest. Er sieht in Augusts Gesicht und die Ahnung, die jetzt feste Krallen in seinen Hemdkragen schlägt, kriecht leise an seinem Bein empor. Die wenigen Wochen füllen sich mit sprachlosen Verabredungen. Auf ungezwungene Kinobesuche folgen Spaziergänge, die sich in Abende ausdehnen. Eine menschgewordene Phantasie, die Glück verheißt und Hoffnungen auslöscht.  
August steht abweisend an verabredeter Stelle. Heute werden sich die Hände nicht halten. Der kalte Sommer legt unausweichliche Stille auf den vergehenden Tag. Hanno sucht nach einem Zeichen, das den Rest von Vertrauen rechtfertigt und findet nichts. Die Ahnung packt ihn fester. Ungleich setzen sie sich nebeneinander in Bewegung. Vor ihnen liegt die schweigende Wahrheit zwischen Kieselsteinen und Zigarettenkippen.  
 „Ich empfinde. Du bist widerlich.“ Die Tonlage duldet keinerlei Widerspruch und setzt den vergangenen Wochen ein unausgewogenes Ende. Die Gründe lässt August neben Hanno in der Dunkelheit stehen. 

Schluss
Die Zeit verläuft sich, während die Erde sich behäbig dreht. Es ist der 22. Juni 1987. Der Tag, an dem Fred Astaire starb.

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