Samstag, 18. November 2017

Internet, Sex und Redewendungen

Ich habe neulich über das Internet, Sex und Redewendungen nachgedacht.

"Eine gewischt bekommen" hat früher nichts anderes gehießen, als dass von irgendwoher, meist aus der Syntetikfaser eines billigen Teppichs, ein vorwitziger Stromschlag unter die Haut fuhr.
Heute bedeutet es außerdem ein Tinderdate erwischt zu haben.

Ich finde das toll:
Alles können wir uns im Internet bestellen. Die Liebe für's Leben oder einen Kühlschrank, der technisch dazu befähigt ist, selbständig zu erkennen, wann die Mandelmilch für den ChaiLatte versiegt und vorauseilend gehorsam eine ganze Stiege ordert.
Ich stelle mir vor der Kühlschrank geht einkaufen wie Papa ante Portas: 
Mein Name ist Kühlschrank. Ich kaufe hier ein.

Bald besitzen wir alle Geräte, die unser Zuhause in eine Art riesiges Gehirn oder etwas Vergleichbares verwandeln; Geräte, die die eigenen vier Wände noch schlauer machen als es unsere Telefone und eine Brockhaus-Enzyklopädie gemeinsam je seien könnten.

Die Vorstellung von Technik, die uns das letzte bisschen Eigenverantwortung abnimmt, macht uns derart an, dass wir ohne Nachzudenken Vibratoren erfinden und kaufen, deren Spitzen mit Licht und Kamera ausgestattet sind und die eine WLAN-Schnittstelle haben. 
Über Sicherheitslücken machen wir uns keine Gedanken. 
Dass jeder in Funkreichweite die Bilder abgreifen kann, spart uns bei strategischer Nähe zu einer gynäkologischen Praxis den Arztbesuch. 
Das ist effizient und wir sind faul und haben nichts zu verbergen.

Unsere Lebensmittel wollen wir nicht eigenhändig einholen, wenn es der Kühlschrank nicht für uns tut, ordern wir vom Bett aus die nächstbeste Frischebox und liefern den Unternehmen unsere Gewohnheiten frei Datenkabel gleich mit.
Licht wird nicht mehr gedimmt, sondern von Echo-Alexa abgeschaltet. 
Dass die Geräte manchmal ohne unsere Aufforderung handeln, stört uns nicht. Der Heizungsregler, der Mozart abspielt oder die Sparcherkennung in Partylaune treffen unser Komikzentrum.

Empört haben wir uns, darunter macht es der Social-Media-trainierte Mensch ja nicht mehr, als die Zwangsfotografien für Krankenkassenkarten eingeführt wurden. Gläsern haben wir und genannt und gefühlt, als biometrische Fotografien auf Personalausweise geklebt wurden, aber unsere Telefone mit einem Lächeln und dem eigenen Fingerabdruck entsperrt. 
Neuerdings erlauben wir den vor uns auf dem Tisch liegenden Apparaten, unser Gesicht zu scannen. Der Sicherheit wegen.

Wir tindern und verbinden uns quer über den Globus, fragen Suchmaschinen um Rat - nur beim Stuhlgang, da sind wir eigen und ziehen die Tür hinter uns zu. 
Das Handy darf mit, weil wir auf dem Lokus nicht wie die 1980er-Generation altbacken in einem Uli Stein Buch schmökern möchten lieber tacken.
Ja, ich musste googlen und fand heraus: tacken ist die unheilige Allianz zwischen texten und kacken.
Seit diesem Erkenntnisgewinn denke ich über eine Wortverbindung von "Pinkeln" und "Selfie" nach.

Während wir unser Innerstes nach Außen kehren, tatsächlich wie virtuell, belächeln wir Merkels Neulandgedanken.
Dabei und in vibrierendem Licht betrachtet genau das: Neuland.
Wenig Regeln, viel Information und noch mehr Macht - denn Wissen ist Macht. 
Das Internet ist sich nicht einig, wer diesen Satz geprägt haben soll: Liebknecht oder Bacon.
Wer die Namen nicht kennt, fragt am Ende dieses Textes die Suchmaschine seines Vertrauens, denn nichts wissen macht nichts.
Zusammen ergibt das eine Kneipenweisheit, aus einer Zeit, in der Zapfhähne ausschließlich den Zweck erfüllten, Schaumkronen auf ein Hopfen-Gerste-Malz-Gemisch zu applizieren. Gott erhalt's.

Versteht mich richtig:
Ich mag das Internet. Dort verbringe ich durchschnittlich viel Zeit, überdurchschnittlich viel davon in sozialen Netzwerken oder in der bisweilen verstörenden Welt des Internets der Dinge, wo ein Buttplug (musste ich auch googlen) mit Bluetooth so normal ist wie das morgendliche Zähne putzen.
Kissen, die in pronösem Schmuserot leuchten, wenn eine stabile Internet- und Appverbindung besteht, der / die Liebste das Haupt zur Ruhe bettet, muten auf eine seltsame Art neuzeitlich romantisch an.
Aber ein Vibrator mit Licht, Kamera und WLAN? Warum? Und wie darf ich mir das Tischgespräch zwischen Wein und Käseplatte dazu vorstellen?

"Wir waren im Urlaub an der Ostsee."
"Ach, wie schön. Habt ihr denn auch Bilder mitgebracht?"
"Schlechtes Wetter, du weißt ja wie das ist. Aber bei der Übertragung der Bilder vom Vibrator auf den Laptop, stellten Wir fest, dass Marianne einen nach hinten geneigten Uterus hat."
"Nein?"
"Doch."
"Oh!"


Die Moderne in allen Ehren, aber was - abgesehen von Elefanten - war das noch, das nichts vergisst?
Ach ja, das Internet.

Ich weiß, haben ist immer besser als brauchen. Ich habe beispielsweise zwei Katzen. Deshalb brauche ich aber noch lange keinen Apparat, der die Tiere in meiner Abwesenheit unter Trockenfutter begräbt, weil die zur Steuerung der Fütterungsvorrichtung vorgesehene App Amok läuft.

Ich habe auch ein Smartphone und einen Faible für Anglizismen. Deshalb brauche ich aber keine unsichere Messenger- oder andere App, welche die mit meiner Mutter geführten Gespräche aufzeichnet. 
Schließlich ist das ein Privatanschluss und keine Servicehotline.
Und wo ich schon bei "privat" bin:
Es gibt etwas, das ich nur noch eingeschränkt habe, aber unbedingt und dringend brauche. Nicht nur beim tacken. Sondern immer.
Privatsphäre nämlich.

Die Vorstellung, dass ein Konzern den Schlüssel zu meinen Phantasien, Ängsten und Träumen und meiner Wohnung hat, gruselt mich mehr als Pennywise es je können wird - und ich weiß, niemand mag Clowns.

Der DHL-Mann, der erst nie und dann zu spät kommt, betritt ausgerechnet dann die Wohnung als die Spracherkennung meiner Wahl das Badewasser wohl temperiert hat oder meine Vibratorkamera Bilder für die Nachwelt schafft?
So ein Bild sagt schließlich mehr als tausend Worte.

Klingt nach Zukunftsdystophie? Von wegen.
Das Tool heißt Amazon Key und erlaubt sehr praktisch, dass der Paketbote die Schwelle zum Privaten übertritt. 

Wir verkaufen uns aus Bequemlichkeit aus. Jeden Tag ein bisschen mehr.
Während wir fluchen, dass uns die Konzerne maßgeschneiderte Werbung in die Postfächer und Briefkästen spülen, ziehen wir die Paybackkarte durch den dafür vorgesehenen Schlitz, storen unserer Erinnerungen in Clouds und lassen uns bei jedem Schritt zählen, vermessen, evaluieren.

Und die Moral? Wird sich jetzt vielleicht manch einer fragen.
Es gibt keine.
Nur ein Bewusstsein. Das sollten wir haben.