Donnerstag, 3. August 2017

Der Rahmen

"Mal mir ein Bild." sagt Marianne, gerade noch bevor der Wind den Wetterhahn auf dem Kirchturm dreht.

Oswald kennt Marianne schon sein ganzes Leben. Deshalb sagt er nicht, sie wisse doch, er sei kein Maler. Sie widerspräche ihm ohnehin, dessen ist sich Oswald gewiss.
Als Marianne ihr Augenlicht verliert, sind sie noch Kinder. 

Oswald flicht aus den Schilffhalmen, die sich über den schmalen Bachlauf neigen, als seien sie nicht sicher, ob sie den richtigen Platz zum wachsen erwählt hätten, einen Rahmen.

Die Form ist nicht kompliziert. Der Rahmen eines Bildes, so denkt Oswald, hat unverschnörkelt zu sein. Andernfalls lenkte er den Betrachter zu sehr vom Wesentlichen ab, dem Bild nämlich.
Oswald ist ohnehin der Ansicht, dass zu viele Ablenkungen vom Wesentlichen den Lauf der Welt bestimmen. 

Während er also ein einfaches, aber keinesfalls schmuckloses Quadrat flicht, schweigt Marianne. 
Marianne schweigt in regelmäßigen Abständen. Oswald ist das Schweigen gewöhnt. Obgleich er es anfangs als irritierend empfand, ist es ihm mit der Zeit angenehm geworden. 
In Mariannes Schweigen ertrinken die Geräusche der Welt. Was dann übrig bleibt ist der Wind, der über die Haut streicht und den Wetterhahn auf dem Kirchturm dreht.

Oswald mag die Stille. Er füllt sie mit Gedanken, die er manchmal für sich behält und manchmal bei einer passenden Gelegenheit mit Marianne teilt. 
"Weißt du noch, neulich als wir am Bachlauf saßen, da hast du so schön geschwiegen und ich habe mir gedacht..." sagt er dann, während er den Käse, dessen Namen er sich nicht merken kann, aber den Marianne am liebsten ganz ohne die Zugabe von Brot isst, in eine Schale hobelt und Marianne hebt den Kopf, der ein leichtes Nicken andeutet.

Bei manchen solcher Gelegenheiten stellt sich heraus, dass Oswald versehentlich eine Geschichte erfunden oder zumindest gedacht hat. Von Fröschen, die sich ein Wettspringen über die Seerosenblätter auf einem Teich liefern. Sie heißen Fridolin und Ferdinand. Wobei Ferdinand stets den Kürzeren zieht, weil er einst knapp dem Storch entrann und ihm ob dieser glücklichen Fügung im Unglück eine Verletzung im rechten Schenkel geblieben ist, die seine Sprungweite in erheblichem Maße beeinträchtigt. 

Oder von Clara und Motte, was selbstverständlich ein Spitzname ist, den sich Detlef, denn so lautet Mottes tatsächlicher Name, den ihm seine einfalts- aber nicht lieblose Mutter gegeben hat, ausgesucht hat, die sich unter den Brücken einer Großstadt herumtreiben und ihrem Leben den Anstrich des rebellischen zu geben versuchen, so lange sie jung und noch keine Bänker sind. Motte ist sich übrigens sicher, dass er seinen Spitznamen, den er deshalb als passend empfand, weil er die freie Wahl hatte und weil er den Lichtschein des Feuers an Oktobertagen so sehr liebt, dass er sich hin und wieder vorstellte, hineinzufliegen, würde abgeben müssen, machte er die Ausbildung in einem großen Bankhaus, wie sein Vater es sich für sich selbst wünschte.

Marianne stellte vor einigen Jahren die Frage, woher diese Geschichten kämen. Oswald, der keine Antwort darauf zu geben gewusst hatte und sich selbst niemals als phantasievoll bezeichnen würde, hatte mit den Schultern gezuckt. Sie seien einfach plötzlich da, wenn die Stille so unüberhörbar laut klänge.

Oswald legt den geflochtenen Rahmen auf das an wenigen Stellen durcheinander geratene Gras. Mit vorsichtigen Bewegungen richtet er die platt gedrückten Halme auf, streicht hin und her, bis die Ordnung in dem kleinen von Schilffhalmen umrandeten Raum wieder hergestellt ist. 

"Siehst du", sagt er und nimmt Mariannes Hand, führt ihren Finger sachte über den Rahmen, "das sind die Grenzen eines Königreiches. Dort leben vor allem Fischer, die sich selbst keinen Herrscher gegeben haben und den Frieden untereinander für ein wertvolles Gut halten. Sie streiten nicht, sondern flicken ihre Netze im Schatten der Bäume. Viele von ihnen leben schon seit dem Tag ihrer Geburt in den kleinen Dörfern, die nicht mehr Einwohner zählen, als du Finger an beiden Händen hast." 

Oswald lässt Mariannes Finger durch die Grashalme streifen. Als sie mit der Kuppe des Zeigefingers einen Löwenzahn berührt, sagt Oswald:
"Vorsicht, unter eben diesem Baum hat sich der alte Pappadello niedergelassen, um seinem Enkel das Flicken der Netze beizubringen. Pappadello fehlen die Eck- und verschiedene Backenzähne im Oberkiefer. Er findet das praktisch, denn so hält die Pfeife, trotzdem er spricht. Seinem Enkel, den er nur "Enkel" nennt, zum einen weil der Junge der einzige Enkel ist, den Pappadello hat und zum anderen, weil er sich den Namen des Jungen nicht oder überhaupt einen Namen merken kann, gefällt nicht, dass Pappadello Pfeife raucht, aber er mag den Geruch des Tabaks. Also bittet er seinen Großvater fast nie darum, aufzuhören. Wollen wir sie nicht weiter stören."


Mariannes Hand wandert behutsam das Quadrat ab.
"Einmal im Jahr treffen sie sich und begehen ein ausgelassenes Fest. Drei Tage und drei Nächte versiegt das Bier in ihren Krügen nicht und selbst den Kleinsten ist es gestattet, bis zum Morgen um die Feuer zu tanzen."

Oswald beschreibt mit Mariannes Fingern einen Kreis in der Mitte des Rahmens. 
"Sie feiern in diesen drei Tagen und Nächten nicht weniger als ihre Freiheit und ihr Glück. Die Feuer halten sie warm und an langen Tischen tauschen sie Geschichten wie Neuigkeiten aus. Manches Mal kommt es sogar vor, dass sie Pläne schmieden. So sind im vergangenen Jahr die Schwestern Berta und Elvira aus dem Dorf im obersten Winkel des Königreiches auf die Idee gekommen, sie könnten umziehen. Berta ist von jeher pragmatischer Natur und setzt gemachte Pläne flugs in die Tat um. Am Abend des dritten Tages war es beschlossene Sache. Sie und Elvira würden ihr Dorf gegen ein anderes eintauschen. Da aber so ein Dorf zwei Einwohner zu viel und eines zwei zu wenig haben, wodurch das Gleichgewicht empfindlich gestört würde, entschieden sich zwei Freunde aus dem am südlichsten gelegenen Dorf, die Plätze mit den beiden Schwestern zu tauschen. Von ihren Reisen werden sie in diesem Jahr beim großen Fest berichten. Und wer weiß, vielleicht sind wir beide ja dabei, um zu erfahren wie es ihnen ergangen ist" sagt Oswald und Marianne lächelt, als der Wind den Wetterhahn auf dem Kirchturm dreht.