Dienstag, 13. März 2018

Jakobs Ketten

Trotz der klaren Luft, die Herbstsonne und Winterwinde vor sich hertreibt, schmeckt der Weg nach Verwesung. Das Tauwasser spiegelt sich trüb selbst. Eine giftige Brühe, die sehnsüchtig auf den nächsten Frost wartet, der so sicher ausbleiben wird wie das Amen in der Kirche, auf deren Holzbänken klimawandelnde Sünder sitzen. Mitten auf der einzigen Straße, die diesen Namen verdient, blutet ein toter Hase auf den feuchten Asphalt. 

Jakob steht seit Stunden am Fenster, starrt durch sein schmutziges Spiegelbild auf die rostroten Flecken da auf dem Asphalt. Den Hasen sieht er schon lange nicht mehr. Die nackten Füße sind taub und durch die häusliche Stille tönen laut seine Gedanken, unterbrochen von dem Klirren der Eisenglieder um seinen linken Knöchel. Unter dem Eisenring hat sich längst Schorf gebildet über der Wunde, die vom zu heftigen Zerren herrührt. Jakobs Erinnerung versagt ihm den Dienst. Seit wann das kalte Eisen um seinen linken Fuß liegt, vermag er nicht zu sagen. Jakob darf nicht am Fenster stehen. Eines der vielen Gebote, denen er Folge zu leisten hat, besagt in strenger Deutlichkeit, niemand darf ihn sehen. Auf der Straße tanzen die rostroten Flecken. Jakob versucht den Blick zu schärfen, kneift das rechte Auge zusammen, die verdreckte Fensterscheibe ist ihm im Weg. Wäre seine Kette nur um ein oder zwei Glieder länger, er könnte sie erreichen, einwerfen wohlmöglich. Und dann? Durch die Scherben würde er steigen, nach draußen. Ob er sich die nackten Füße an dem gebrochenen Glas aufschnitte, würde er nicht merken. Rostrote Flecken würde er zurück lassen auf dem feuchten Asphalt, gleich neben dem toten Hasen. 
Aber die Glieder der Kette reichen nicht weit genug. Die Freiheit ist mehr als nur eine Armeslänge entfernt. Jakob weiß das, obwohl er sich den Gedanken an Freiheit nur noch selten erlaubt. Seine Erinnerung versagt ihm den Dienst. Wann er das letzte Mal frei war, vermag er nicht zu sagen. Die häusliche Stille scheint ihn seit einer Ewigkeit zu begleiten, so wie der gekreuzigte Heiland an allen vier Wänden des Raumes seit einer ununterbrochenen Ewigkeit hängt. Manchmal fühlt Jakob die Blicke des holzgeschnitzten Gesichts. Sie folgen ihm von Wand zu Wand, mahnen ihn, sich nicht sehen zu lassen. 
Während der Asphalt langsam in der kalten Sonne trocknet, rauscht ein Wagen über den toten Hasen hinweg. Jakob zuckt zusammen, die Kettenglieder spannen sich. Ein stechender Schmerz fährt ihm durch den Knöchel bis unter die Kopfhaut, als die Haustür zufällt.
Schnell rafft Jakob die Kette, so leise wie sich Eisenketten eben raffen lassen, schleicht in gebückter Haltung in die Ecke des Raumes, die am weitesten von der schmutzigen Scheibe entfernt ist. Jakob betet, sie möge seinen Schatten nicht gesehen, die Bewegungen nicht gehört haben, als er auf der modrigen Matratze die Arme um spitze Knie schlingt.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss der Haustür. Sie schließt immer ab. Zweieinhalb Umdrehungen lässt sie den Schlüssel machen, um sicherzugehen. Der Junge kann nicht aus seinem Zimmer fliehen. Sie weiß das. Dennoch will sie sichergehen. Auch Eisen kann brechen. Und sie sieht den Augen des Jungen, dass er noch manches Mal an das Fliehen denkt. Sie hat sich vorgenommen, ihn für diese Gedanken zu bestrafen. Er muss lernen zu gehorchen. Kinder müssen gehorchen. Sie hat es gemusst, der Junge muss es lernen. Mit festen Schritten geht sie durch den Flur. Auf der anderen Seite der Wand zuckt Jakob zusammen. Sie wirft ihren Mantel über einen alten Stuhl, der seit sie das Haus bezogen hat, im Weg steht. Sie kann sich nicht davon trennen. Jakob hört wie der Mantel sich unsanft über die Lehne legt. Die Metallknöpfe hinterlassen Kerben in dem weichen Holz. Jakob weiß, sie wird in die Küche gehen, bevor sich die Tür zu seiner Kammer öffnet. Jakob beginnt zu zählen. Es ist ein Ritual. Die Tür eines Küchenschranks klappt; eins, zwei, drei. Das Glas schlägt hart auf der Anrichte auf; vier, fünf, sechs. Der Kühlschrank summt; sieben, acht, neun. Sie schenkt sich ein; zehn, elf, zwölf. Jakobs Handflächen sind feucht, seine Kehle trocken.

Wieder feste Schritte im Flur; dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Der Schlüssel fährt ungeduldig in das Schloss der Tür. Ein dünner Lichtstrahl, der nicht als Hoffnungsschimmer taugen will, fällt in das dunkle Zimmer. Nur für einen kurzen Moment, bevor sich die Tür hinter ihr schließt. Sie mustert Jakob in seiner Haltung. Er weiß, er sollte die Arme von den spitzen Knien lösen. Er sollte sich aufrichten, sie begrüßen. Er weiß, tut er es nicht, wird sie ihn bestrafen, und ist doch unfähig eine einzige Bewegung auszuführen. Sein Körper ist starr, will ihm nicht gehorchen. Sechzehn, siebzehn, achtzehn. Der Stock kracht gegen seine Rippen. Jakob weiß, es werden weitere Schläge folgen, so lange bis er sich mühsam aufrappelt. Es ist ein Ritual, festgeschrieben seit Anbeginn seines Lebens in diesem Haus. Sie betritt sein Zimmer nie ohne den Stock. Jakob spürt den Schmerz der Schläge an manchen Tagen kaum noch. An anderen Tagen treffen sie ihn wuchtig. Sie spricht nicht ein Wort. Aus gefrorenen Augen sieht sie auf das ungehorsame Elend zu ihren Füßen hinab. Würde der Junge nur ein einziges Mal tun, was sie von ihm erwartet. Sie müsste ihn nicht schlagen, denn sie tut es wahrlich nicht gern. Der Junge versteht das nicht. Blickt sie an, mit diesen aufmüpfigen Augen, die nach Freiheit schreien. Heute hat er nicht einmal den Respekt, unter ihren Schlägen zusammen zu zucken. Sie holt erneut aus. Ihre Hand greift den Stock fester. Würde der Junge doch endlich aufstehen, sich rühren. Sie könnte aufhören. Jakob versucht nicht, sich zu schützen. Sie wird irgendwann damit aufhören. Das tut sie immer, irgendwann. Dann geht sie. Stunden später wird sie ihm etwas zu essen und die Bibel bringen. Jakob darf die Bibel nicht behalten. Sie verlangt, dass er darin liest. Genau eine Stunde, während des Essens. Sie wird ihn mit diesen gefrorenen Augen ansehen. Es ist ein Ritual. Wie das Zählen. 

Als Jakob sich erhebt, langsam und gebückt, trifft ihn ein letzter Schlag auf den Rücken. Seine Kiefermuskeln verspannen sich, damit der Schrei nicht in die muffige Zimmerluft entweicht. Jakob weiß, dass er nicht schreien darf. Sie wird wütend, wenn er schreit. Endlich. Sie stellt den Stock an die Wand. Sie ist kleiner als Jakob. Hätte er den Mut, er könnte sie überwältigen. Die Glieder seiner Kette reichen. Jakob ist nicht mutig. 

Sonntag, 4. März 2018

Carlotta

Sie trägt einen Bassschlüssel hinter dem linken Ohr, der nur dann sichtbar wird, wenn sie die Haare zu einem Zopf bindet oder sich auf den Kopf stellt. Dann aber ist es weniger ein Bassschlüssel als mehr ein Paddel. 
"Die Welt ist ein Boot." sagt Carlotta. "Es ist immer gut, ein Paddel dabei zu haben."

Carlotta wäre gerne in einer Kleinstadt aufgewachsen und nicht zwischen den Betonschluchten, in denen der Wind so vorwitzig an Röcken und Mänteln zieht, die einer Großstadt ein beliebiges Gesicht geben.
"Es ist eben ein Hochhaus. Kein Plattenbau. Nur hoch." sagt Carlotta und nickt einem Mann, ausstaffiert mit Sandalen, aber sockenlos, über die Straße hinweg zu.
"Das ist Ede. Der wohnt hier schon mein ganzes Leben lang. Vielleicht sogar länger." sagt Carlotta und Ede hebt die Hand, indem er den Ellenbogen anwinkelt. 

Carlotta dreht sich ihre Zigaretten selbst. Dabei sitzt sie im Schneidersitz auf dem Vorsprung einer Mauer, balanciert auf ihren Beinen ein Buch.
"Ich habe immer mindestens ein Buch dabei. Manchmal sogar einen Roman." sagt Carlotta. 

"Wenn ich verstecken spielen möchte oder eben gerade nicht auf dem Kopf stehen kann, dann ist so ein Roman genau das Richtige." sagt Carlotta.

Das erste Mal versteckt Carlotta sich, als sie gerade Buchstaben zu Worten verbinden kann. Aus dem Wohnzimmer dringt Lärm. Gläser gehen zu Bruch. Die Stimme ihrer Mutter überschlägt sich. Nachbarn klopfen mit dem Besen gegen die Decke. 

Carlotta flieht nach Nimmerland und sieht am folgenden Morgen einem Polizeibeamten in die Augen. 
"Es gibt ja immer einen Morgen." sagt Carlotta. 
Ihre Mutter sitzt verkatert und heiser zwischen abgewetzten Kissen. Auf dem Boden liegen Scherben. 
"Hotte ist dann ausgezogen." sagt Carlotta und zuckt mit den Schultern. 

Als sie eingeschult wird, schlägt ihr ein Junge, der später in einem Gleisbett gefunden werden wird, weil ihn ein herannahender Zug erfasste, die Brille von der Nase. 
Der Junge hat Sommersprossen und grüne Augen. 
"Wie er hieß, weiß ich nicht mehr." sagt Carlotta und streicht über die Seiten der Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges.
Der Junge wurde gerügt und stellt drei Tage später einem anderen Kind ein Bein.

"Kontaktlinsen stehen mir nicht." sagt Carlotta und schiebt ihre Brille den Nasenrücken hinauf. Sie sitzt unmerklich schief, weil Carlotta häufig beim Lesen einschläft. Dann hinterlässt der Bügel auf der linken Seite ihres Kopfes einen Abdruck, verbiegt sich an der Form ihrer Knochen. 
"Außerdem kann ich so über den Rand hinaus sehen." sagt Carlotta, als wäre das selbstverständlich.

Das erste Mal über den Rand gesehen hat Carlotta in der fünften Klasse, als drei Mitschüler drohten sie über die Brüstung im 3. Stock des Schulgebäudes hinab fallen zu lassen. 
Carlotta blieb stumm, die beiden Jungen und das Mädchen, deren Namen Carlotta sich weigerte dem Direktor zu nennen, kamen davon. 

"Verrat liegt mir nicht." sagt Carlotta. Sie hat gelernt zu dulden. 

Als sie Max trifft, ist einer ihrer Kniestrümpfe herunter gerutscht. 
Max, der es nicht leiden kann, wird er "Mäxchen" gerufen, fragt sie:
"Bist du glücklich?" 

Sie stehen auf einem Stück Gehweg zwischen den hohen Häusern und dem bisschen Leben in einer fast vergessenen Siedlung am Rande der Stadt.
Carlotta zieht die Nase kraus. 
"Zufrieden bin ich." sagt sie. "Zufriedenheit ist das größte Glück." 
Max lacht und stört sich nicht daran, dass sie ihn Mäxchen ruft.

Das erste Mal verirrt sich seine Faust in ihre Magengrube, als sie sich ein Jahr später um eine halbe Stunde verspätet.
Eis essen hatten sie gehen wollen. Mäxchen betrat die Eisdiele zu früh, bestellte für sie beide. 
Das Eis schmolz unter der wachsenden Hitze seines Zorns.
Carlotta flieht in das Florenz der Familie Medici. 
Sie nennt ihn nicht mehr Mäxchen und verlässt ihn fünf gebrochene Rippen später.

"Es ist nicht einfach, sich aus dem Weg zu gehen. Die Siedlung ist kleiner als ein Dorf." sagt Carlotta und wischt die Tabakkrümel von ihren Beinen.

Im Kellerabteil stapeln sich Kisten. Einmal in der Woche sitzt Carlotta auf einer säuberlich zum Quadrat gefalteten Decke zwischen den Kisten. 
Zweieinhalb Stunden sitzt sie dort, studiert die Seiten des Inhaltsverzeichnisses, atmet den Staub voriger Generationen. Das Kellerabteil ist ein Ort der stillen Sicherheit. 
"Zu viel Sicherheit ist trügerisch." sagt Carlotta und verschließt die Tür mit der gebotenen Sorgfalt.

Zwischen dem Alltag und den Büchern schleicht sich der Sommer aus der Siedlung. Es regnet als Ede einen Herzinfarkt erleidet. Carlotta weint und legt ihm ein Paar Socken auf den Grabstein.
"Manche Geschichten enden traurig." sagt Carlotta und deckt sich mit Andersens Märchen zu.