Montag, 21. November 2016

Davids Dachboden

Als ich das erste Mal neben deinem Bett stehe, kenne ich dich gemessen an einem Leben dreieinhalb Sekunden. Der Stapel Bücher auf der Heizung sticht mir die Augen aus.
Ich mag Menschen, die lesen. Denke ich. Und setze ein schiefes Lächeln auf.
Das mache ich immer so, wenn mir etwas gefällt. Ich habe das Lächeln studiert, könnte eine Akademie leiten.

Du liest gerne. Frage ich.

Dein Kopf schüttelt sich selbst.
In den Büchern liegen eingestaubte Lesezeichen. Das sehe ich jetzt. Wenigstens knickst du die Seiten nicht um.

Ich kaufe gern Bücher. Sagst du. Ein stiller Moment hängt zwischen Dielen und Decke. Du erklärst dich.
Im folgenden Jahr wirst du mir erzählen, dass du musstest, weil sich mein Lächeln gerade gerückt hat. Du mochtest es schief lieber.

Im Jetzt, als ich neben deinem Bett stehe, sagst du:
Buchhandlungen beruhigen mich. Nicht die großen, die zu einer Kette gehören. Die Kleinen, wo die Regale bis unter die Decke reichen. Einmal im Monat, durchschnittlich, suche ich nach einer kleinen Buchhandlung und verbringe den Tag dort. Am Ende des Tages kaufe ich ein Buch, manchmal zwei. Auf dem Weg nach Hause beginne ich zu lesen. Wenn die Geschichte mir gefällt, lege ich ein Lesezeichen hinein und das Buch auf den Stapel da drüben. Sobald das Jahr zu Ende ist, am 31. Dezember also, packe ich die Bücher in eine Kiste, schreibe die Jahreszahl darauf und bringe sie auf den Dachboden. Am 2. Januar kaufe ich neue Lesezeichen.

Meine Augen halten eng zusammen, als sie dich nach dem Warum fragen.

Ich ertrage das Ende einer Geschichte nicht. Sagst du.

In deiner Wohnung, das sehe ich am nächsten Morgen, stehen keine Regale. Im Flur hängt ein Schlüsselbord aus dem Baumarkt, an dem nur ein einziger Schlüssel baumelt. Dachboden steht über dem Haken.

Zeigst du ihn mir. Frage ich, als du Kaffee kochst.

Du sagst nicht Ja, nicht nein. Warum bist du geblieben. Fragst du stattdessen.
Darauf weiß ich nichts zu sagen als, weil ich es wollte.
Ich bin nicht daran gewöhnt, dass jemand bei mir bleibt und koche Kaffee stets nur für eine Person. Sagst du.

Dann nimmst du den Schlüssel vom Haken und winkst mir, dir zu folgen. Das Haus, indem du im zweiten Stock, Südseite, wohnst, ist alt. Die Treppenstufen erzählen knarrend Geschichten, als wir auf Zehenspitzen durch den Mietshausgeruch zum Dachboden schleichen und mit unseren Schritten Holzwürmer wecken.
Es ist Sonntag und es ist früh. Wir wollen die Nachbarn nicht stören und haben die Rücksichtnahme erfunden.
Auf der obersten Stufe drehst du dich zu mir um, als wolltest du dich vergewissern, dass meine Schritte Wirklichkeit und nicht das einsame Echo deiner eigenen waren. Du legst den Finger an die Lippen. Ich nicke und mache ein selbstverständliches Gesicht, obwohl ich dich laut küssen möchte.
Zwischen deinen Augenbrauen steht eine Falte, als du die Tür aufschließt, so als müsstest du dich überwinden.
Ich stehe zwischen zwanzig Kisten, 1989 lese ich auf derjenigen direkt zu meinen Füßen.

Das Jahr, in dem die Mauer fiel und mein Leben einstürzte. Sage ich zu den Wänden deines Dachbodens.

Du machst einen Schritt und die Kiste auf.
Welches Buch gleich oben auf lag, erinnere ich nicht mehr. Du nimmst meine Hand, als gäbe es nichts anderes zu tun, fest gehalten hast du mich. Du wüsstest, welches Buch uns an diesem Morgen aus 1989 angestarrt hat. Aber du bist nicht hier.

Stunden verbringen wir auf deinem Dachboden. Im Staub der Vormieter sitzen wir mit einer Gartenlaterne zwischen deinen Kisten. Ich lese dir vor. Solange bis die Wörter meine Stimme brechen und du schlafen kannst.

Wir leben Selbstverständlichkeiten in einem Rhythmus, den nur wir kennen. Die Zeit fließt, weil es das ist, wofür Zeit bestimmt ist.
Wann weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, es war ein Tag im Frühling, weil ich dein Niesen noch hören kann. Du hast Heuschnupfen und auf einer Wiese blüht ein Meer aus Löwenzahn. Wir bauen Regale in einer größeren Wohnung auf, jagen uns Holzsplitter in die linken Hände. Deine Bücher befreien wir aus ihren Kisten und kleben auf Folie gedruckte Jahreszahlen auf die Böden der Regale.
Die Gartenlaterne stellen wir auf den Balkon.

Ich lese dir vor, bis die Wörter in zur Hälfte gefüllten Weingläsern schwimmen und du schlafen kannst.
Der Dachboden bleibt staubig und unbesessen.

Die Küchenwand streichen wir eisblau und streiten über den Pinselstrich bis die Farbe trocknet.

An der Wand neben der Tür hängst du konserviert mit deinem Winterlächeln und erinnerst mich an Liebe.
Ich besuche dich nicht mehr oft.

Deine Bücher sind zurück in die Kisten verpackt. Unsere Freunde tragen sie schwitzend auf den Dachboden und mich fragen, ob ich sicher bin.
Ja. Lüge ich mit roten Wangen.
Die Regale baue ich ab und liege auf dem Küchenboden, während das eisblau schmilzt und du den Winter hinter Glas einfach davon lächelst.
Ich werfe Bücherweise Wörter nach dir und ertränke meine Stimme in Wein, lange bevor sie bricht. Erst mit schreiender Zurückhaltung, bald schon mit leiser Wut.
Dein Lächeln bleibt starr. Das Eisblau tropft und es wird Sommer.

Ich mag den Sommer nicht. Höre ich dich sagen. Er ist mir zu leicht.
Als ich dich finde, reitet die Hitze durch die Stadt.
2009 ist das Jahr, in dem ich einstürze und du das Ende der Geschichte nicht erträgst.

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