Mittwoch, 19. Oktober 2016

Die Tischgesellschaft

"Ich wüsste gern..." beginnt Mara einen Satz. Bertram aber hebt ohne Umschweife den Zeigefinger der rechten Hand in einer Mischung aus Drohgebärde und Warnung. 

Zur Gelegenheit einer abendlichen Einladung, wo sich ihre engsten Bekannten, denn für die Verbindlichkeit von Freundschaften fehlt ihnen die Zeit, in Anzügen und Cocktailkleidern um einen antik wirkenden, großflächigen Esstisch versammeln, sich der angenehmen Plauderei verschreiben, ist nicht die Zeit, etwas wissen zu wollen. 

Gewohnt den Gesten ihres Mannes Folge zu leisten, verschließt Mara gehorsam die überschminkten Lippen, bemüht das Glas mit längst schal gewordenem Champagner just dort anzusetzen, wo die Farbe ihres Lippenstiftes einen vorwitzigen Abdruck hinterlassen hat. Zur Seite blickend muss Mara feststellen, dass ihr Glas das einzige ist, welches sich weder hatte leeren lassen wollen und gleichsam von verschmierter Farbe gezeichnet ist.

"Komm, Liebes, ich nehme dir das ab." sagt Corinna eine Spur zu sanft, während sie dem eigens für diesen einen Abend angestellten Personal ein Wink gibt.
Eilig löst sich eine weiß-behemdete Gestalt aus dem Schatten, tauscht Maras Glas gegen ein vollständig jungfräuliches aus, in dem der Champagner Perlenfäden zieht. Mara erlaubt sich einen leisen Seufzer, während Corinna zufrieden ihre Glaceehandschuhe zurecht zupft. Unter dem glanzvollen Satin verbergen sich Narben, die Corinna sich sorgfältig selbst beibringt. 

"Trink, Liebes, bevor der Champagner wieder schal wird." sagt Corinna, während ihre behandschuten Finger sich zu fest in Maras Schulter graben; lacht ein glockenhelles Lachen als sie sich abwendet.
Über die abgenagten Knochen für den Verzehr gezüchteter Wachteln, breitet sich eine seichte Unterhaltung. 

Mara sieht den Perlen in ihrem Glas dabei zu, wie sie rhythmisch an die gold-kupfer schimmernde Oberfläche gleiten, bemüht nicht auf Bertrams Vortrag zur kommenden Kaltfront, die untypisch für diese Zeit des Jahres sei, zu achten und zugleich den stechenden Blick vom Kopfende des Tisches abzuwehren. 
Oliver reckt den Hals. 
"Was wüsstest du gern, Mara?" unterbricht seine Stimme Bertrams Vortrag über das Wetter.
Die Knochen der Wachteln ragen in die plötzliche Stille.

Olivers schmächtige Gestalt verschwimmt hinter einer Kerzenflamme, die über flüssiges Wachs tanzt. Bertrams Hände legen sich um die Kante des Tisches. Als wollten sie der ruhig ausgeführten Geste widersprechen, treten die Knöchel weiß hervor. 
Bertram schätzt es nicht, wird er unterbrochen. 

Sie kennen einander seit Jahren und verabscheuten sich auf Anhieb. Zwei Jungen, aus denen Männer wurden, die sich einen ausgewachsenen Faustkampf hätten liefern sollen. In aufgeschürften Knien und blutigen Lippen, geprellten Rippen und einer Platzwunde über dem linken Auge, wäre er geendet und mit ihm die Abscheu.
Jedoch waren sie keine Straßenkämpfer, sondern vermeintliche Schöngeister, die sich über abgenagten Knochen gezüchteter Wachteln, zwischen Kerzen und Champagner nicht einmal hassten, sondern schlicht bis in die letzte Zelle verachteten.

Sie hatten versucht voreinander zu fliehen, denn sich nur aus dem Wege zu gehen schien ihnen nicht angemessen. Bertram hatte über die zurückliegenden Jahre hinweg nicht selten mit dem Gedanken geliebäugelt, Olivers schmächtige Gestalt, die ein unproportionaler Kopf beinahe ins Lächerliche zog, zwischen jenen Händen zu zermalen, die sich jetzt in der Tischkante nahezu fest beißen.
Das Weiß der Knöchel spiegelt das  Kerzenlicht. Maras Schultern wollen in sich zusammenfallen wie gerade aufgekehrtes Laub.

Das feine Satin reibt an den Narben, schickt sich an zu knistern. Mit der Übung jahrelanger Unauffälligkeit schiebt Corinna ihren Stuhl auf einem Parkett zurück, das die Bewegung auffallend geräuschlos geschehen lässt.
Fast eilig lenkt Corinna ihre Schritte um den Tisch, streift Bertrams Schulter mit einer beruhigenden Geste.
"Es lohnt nicht." murmelt sie im Vorübergehen. Bertrams Hände geben einen Moment nach, scheinen alle Anspannung fahren zu lassen. Olivers Hals reckt sich noch immer verschwommen in dem Schein der Kerze. 
Corinna schenkt selbst Champagner nach. Ihre Augen ruhen unter halb geschlossenen Lidern auf einem Messer. Danach zu greifen wäre einfach. Den Handschuh müsste sie nur einige unbedeutende Zentimeter zurückschieben. Nur ein Schnitt. Einige Tropfen Blut, die sich leise auf dem Weiß des Tischtuchs niederlassen könnten. 
Statt ihres Blutes läuft Champagner über den Tisch.
Maras Schultern straffen sich.
"Ich wüsste gern", setzt sie erneut an, "warum wir unsere Zeit miteinander verschwenden."
In die andauernde Stille ragen die Knochen der Wachteln. 
Ein Glas geht zu Bruch. 
Mara gleitet von ihrem Stuhl. Den Blick auf die Scherben gerichtet. 
"Glück." sagt sie. "Scherben bringen Glück." 
Mit größter Sorgfalt legt sie eines der Glasstücke auf Corinnas Teller.
"Ihr solltet euch endlich prügeln." Ihre Finger wandern über Olivers gespannte Sehnen. 
Niemand sieht ihr nach, als sie den Raum verlässt.
"Ich bin es leid, Bertram." wirft sie über die Schulter zurück in die Stille einer Tischgesellschaft.

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