Montag, 15. August 2016

Alfred und Mats

"Stell dir mal vor, du sitzt auf einer Parkbank und plötzlich kommt ein Mann oder eine Frau, das ist im Grunde nicht wichtig, mit einer Waffe in der Tasche auf dich zu. Und stell dir vor, dieser Mensch - ich sag jetzt einfach mal Mensch, weil das Geschlecht ja egal ist - setzt sich neben dich, zieht die Mütze noch ein bisschen tiefer in die Stirn und bevor du dich fragen kannst, warum dieser Mensch eine Waffe in der Tasche hat, die würdest du nämlich zumindest erahnen, weil die Tasche eben waffenförmig ausgebeult wäre, und dann auch noch eine Mütze trägt, obwohl es mitten im Sommer ist und es überhaupt keinen vernünftigen Grund gibt, bei Temperaturen um 25 Grad eine Mütze zu tragen und sie dann auch noch ein bisschen tiefer in die Stirn zu ziehen. Stell dir das mal vor", sagt Alfred, den sie früher in der Schule "das Ekel" nannten, weil es diese Fernsehserie aus den siebziger Jahren in das kollektive Bewusstsein geschafft hatte.

Dabei ist Alfred gar kein Ekel, sondern einer dieser Menschen, die eine gewisse Gewöhnungszeit bei ihrem Gegenüber voraussetzen und sich als durchaus liebenswert herausstellen.
So ein Mensch ist Alfred, der jetzt mit seinem linken Zeh, dem großen, ein Loch in den Sand bohrt und ich hoffe, dass er nicht auf eine Glasscherbe stößt.
Denn dann würde Alfred zu bluten anfangen und Alfred kann kein Blut sehen, am allerwenigsten sein eigenes.

Er bohrt weiter im Sand und sagt: "Und dann stell dir vor, dieser Mensch mit der Waffe würde sagen, er will sterben, aber nicht alleine und deshalb sitzt er hier neben dir auf der Bank im Park und du stirbst jetzt eben mit ihm, weil Dinge zu zweit leichter gehen, selbst wenn man sich völlig fremd ist, auch das Sterben. Was machst du dann?"

Alfred stellt das im Sand bohren ein. Gerade noch rechtzeitig, denn zwischen den feinen Körnchen blitzt es gefährlich grün und wenig abgeschliffen.
Alfred sieht mich an.
"Du hast schon wieder diesen Blick." stellt er fest. "Diesen Blick, der sagt, du würdest mich am liebsten einweisen lassen."
Ich schüttle den Kopf.

Bestimmt käme ich nicht auf die Idee, Alfred einweisen zu lassen, nur weil ich mir nicht vorstellen will, wie mir ein Fremder mit zu tief ins Gesicht gezogener Mütze den eindringlichen Vorschlag macht, gemeinsam zu sterben. 

Alfred formt mit der rechten Hand ein "L", stützt das Kinn auf, den Zeigefinger ordnet er parallel zu seinem Ohr an. 
Das tut er stets, wenn es ihm schwer fällt, etwas zu glauben.
"Doch." sagt er.

Warum Alfred mein Freund wurde, weiß ich nicht mehr. Plötzlich war er da. Mit seinem rot-braun karierten Flanellhemd, über das er Hosenträger gespannt hatte. Mit seiner Art auf die Welt zu sehen und sich durch sie hindurch zu bewegen. Alfred war nie laut. Er wurde herum geschubst, unsere Klassenkameraden nahmen ihm seine Federtasche weg, rissen Seiten aus seinen Schulheften und stopften seine altbackene Jacke in den Mülleimer, in dem immer der Rest einer Bananenschale klebte. Aber Alfred hakte seine Daumen unter den Hosenträgern, die seinem Großvater - väterlicherseits, darauf bestand er - gehörten, ein und sagte sehr leise: "Ihr Wichte." 
Ohne Ausrufezeichen, jedoch mit Nachdruck. 
Er schrie nie und weinte auch nicht. 
Irgendwann gaben die Anderen, die sich nicht zu schade waren, einen vermeintlich Schwächeren zu piesacken, auf. 

"Also? Was würdest du dann machen?" fragt Alfred, als wäre der Gesprächsfaden nicht vor einer Viertelstunde abgerissen.

Das rot-braune Flanellhemd trägt er heute noch, allerdings nur zu besonderen Gelegenheiten. So wie jetzt. 
Zwischen einem Glas Gewürzgurken, dreilagigem Toilettenpapier und dem seltsam angestrengten Blick des Kassieres, sagte Alfred gestern:
"Lass uns morgen ans Meer fahren. Mein großer Zeh möchte sich in den Sand bohren."


Alfred sagte nicht einfach "Lass uns dieses oder jenes tun." Nicht einmal, wenn wir alleine waren. Alfred hatte Gründe, dieses oder jenes zu tun und verstand es als selbstverständliches Gebot der Fairness, sein Gegenüber über eben diese Gründe aufzuklären. 

Ich nickte. Als wir Hand in Hand den Supermarkt verließen, hörte ich den Kassierer in Gelächter ausbrechen.
"Du Wicht." dachte ich. 

Alfred sah sich weder um, noch verstärkte sich der Druck seiner Hand. Das dreilagige Toilettenpapier schwang im Rhythmus seiner Schritte mit.
Nun saßen wir außerhalb der Saison an einem leer gefegten Nordseestrand und im Grunde war es viel zu kalt, als dass dort zu sitzen, mit den nackten Füßen im Sand zu bohren als eine gute Idee erscheinen wollte.

Wir machten Abitur, Alfred schnitt besser ab als ich, und gingen zum studieren nach Göttingen. 
"Warum heißt es "man geht zum studieren in eine Stadt"? fragte Alfred, als wir den letzten Umzugskarton, der zur Hälfte mit den gesammelten Werken von Erich Kästner und zur Hälfte mit Superhelden-Bettwäsche gefüllt war, in den Sprinter stopften. 
Ich zuckte die Schultern, weil ich keine plausible Antwort parat hatte und mich nach einem Moment der Ruhe sehnte.
Wir zogen in eine zweieinhalb Zimmer Wohnung, vor der Tür Kopfsteinpflaster und kauften einen Kanarienvogel. 
Etwa ein halbes Jahr nach unserem Einzug, war der Vogel verschwunden.
"Eingesperrt sein ist nicht lebenswert." begründete Alfred die offene Käfigtür und ich lächelte.

"Beantwortest du mir jetzt meine Frage?" will Alfred am Strand sitzend wissen. 
"Weißt du noch, der Kanarienvogel?" frage ich zurück.
Alfred streckt die Arme mit einer für ihn untypisch ausladenden Geste in Richtung Meer. 
"Ja. Göttingen. Das Kopfsteinpflaster. Und natürlich erinnere ich mich an den Balduin." 
Er sieht mich an.
"Du weichst mir aus." sagt er. Es klingt sachlich. Alfred ist nicht emotionslos. Nur Bekümmert sein hat er sich abgewöhnt. 

Wir schlossen die Universität ab, Alfred hielt eine Rede im Büro des Dekans. 
"Ich habe mich zu bedanken." hatte er sein Vorhaben begründet. Die Universität reagierte auf sein Ansinnen, eine Rede halten zu wollen, mit dem Hinweis, man sei in Deutschland und in Deutschland gelten andere Regeln als in den U.S.A. oder andernorts, wo nach dem Abschluss der Universität eben Reden gehalten würden.
"Zum Glück gelten in Deutschland andere Regeln, denn sonst müsste ich jeden Morgen die Nationalhymne pfeifen, obwohl ich Haydns Werk nicht ertrage." hatte Alfred geantwortet und sich einen Termin beim Dekan geben lassen.

Ein paar Jahre blieben wir in Göttingen, aber schließlich verluden wir die Umzugskartons erneut in einen Sprinter, verkauften den leeren Vogelkäfig und fuhren über ein Netz aus Asphalt nach Otterndorf.
"Diesmal kaufst du aber nicht wieder einen Vogel." sagte Alfred, als sei der Kanarienvogel allein meine Idee gewesen und als hätte ich das Tier 'Balduin' getauft.

Unser Haus steht ein wenig windschief und die Laterne auf der gegenüberliegenden Seite wirft einen warmen Schein in das Wohnzimmer, wenn es im Herbst früher dunkel zu werden beginnt. 
"Lass die Vorhänge doch offen. Ich mag das Licht." sagte Alfred als ich die gerade angebrachten Gardinen hatte zuziehen wollen. Vor dreißig Jahren waren Vorhänge noch weiß und Alfreds Haar schwarz. 

Am Strand wird es kalt. 
"Mats?" fragt Alfred.
Er nennt mich selten beim Namen. 
"Ich weiß nicht, was ich dann täte." sage ich.
"Und wenn ich das wäre, der dich fragt, weil zu zweit alles leichter geht?" 
Alfred sieht aufs Meer, das da im Halbdunkel vor uns liegt und ich verstärke den Druck meiner Hand, die seine umschlossen hält.