Es
ist früh. Die Glasfassade gibt den Blick auf einige wenige Passanten
frei, die durch morgendliche Stille hetzen. Die Dunkelheit wird
künstlich durch das Licht der Straßenlaternen gestört. Ruth steht
vor dem großen Bibliotheksfenster im fünften Stock. Eine raue Hand
presst sie gegen das Glas, stemmt die andere in den Rücken. Die Haut
um die Fingernägel ist eingerissen. Gestern hatte das Nagelbett noch
geblutet. Ruth hat ungeduldig auf den Hautfetzen und an ihren Daumen
gekaut, während ein kleines rostrotes Rinnsal sich wie eine
Tätowierung um ihre Finger gewunden hat.
Sie
sollte die Hand von der Scheibe nehmen. Ruth weiß das. Der
schmierige Abdruck ihrer Finger wird von weitem auf der sonst
makellos glänzenden Scheibe zu sehen sein, kaum dass etwas Licht
darauf fällt. Ihre Hand verstärkt selbstbestimmt den Druck auf die
Scheibe. Was, wenn sie bräche? In tausende und abertausende kleine
Splitter, die auf dem sich wellenden Teppichboden ein Muster ergeben
und auf die Straße hinunter fallen würde. Und bevor Ruth sich einen
anderen Halt suchen könnte, würde sie dem Scherbenregen folgen,
sich vielleicht einmal um sich selbst drehen im freien Fall. Sie
würde das Bewusstsein verlieren, bevor ihr massiger und kleiner
Körper auf den Asphalt im künstlichen Licht der Straßenlaterne
aufschlüge und es wäre alles still.
Geschäftsmänner, die sich in unscheinbar wirkenden grauen oder schwarzen Wintermänteln verstecken, hasten über den Bordstein. Ruths Lippen formen einen Schrei, die wulstigen Knie brechen auf den Teppich nieder. Die in den Rücken gestemmte Hand sucht sich einen neuen Platz, wunde Finger bohren sich in die Fasern neben dem linken Knie, finden keinen Halt. Die rechte Hand brennt. Sie hat den Druck nicht verringert, ist an der Glasscheibe heruntergerutscht auf die Höhe in der Ruth ihren gesenkten Kopf hält. Eine fettige Spur hat sie über das stabile Fensterglas gezogen.
Geschäftsmänner, die sich in unscheinbar wirkenden grauen oder schwarzen Wintermänteln verstecken, hasten über den Bordstein. Ruths Lippen formen einen Schrei, die wulstigen Knie brechen auf den Teppich nieder. Die in den Rücken gestemmte Hand sucht sich einen neuen Platz, wunde Finger bohren sich in die Fasern neben dem linken Knie, finden keinen Halt. Die rechte Hand brennt. Sie hat den Druck nicht verringert, ist an der Glasscheibe heruntergerutscht auf die Höhe in der Ruth ihren gesenkten Kopf hält. Eine fettige Spur hat sie über das stabile Fensterglas gezogen.
Ruth
versucht sich aufzurichten. Sie kann hier nicht bleiben. Ruth weiß
das. Bald werden die ersten Angestellten das Gebäude und kurz danach
das Stockwerk betreten. Sie werden ihre Computer anschalten und sich
ihrer Arbeit widmen. Es könnte noch ein paar Stunden dauern, bis der
erste seinen Weg in die Bibliothek findet. Ruth wird dann nicht
zusammen gekauert vor der Fensterscheibe knien. Die Vorstellung,
Fremde würden auf sie hinunter sehen wie sie dort läge, spült eine
gewaltige Welle Scham über Ruth hinweg. Mühsam nimmt Ruth die Hand
von der Fensterscheibe. Sie befiehlt ihrem ungehorsamen Körper sich
zu bewegen. Zunächst gehen ihre Beine in die Hocke. Ruth atmet unter
dem Druck auf ihren kurzen Beinen schwer. Sie zählt. Fünf, vier,
drei, zwei – ein Ruck fährt durch ihren Körper.
Wankend steht sie vor der Fensterscheibe. Ohne Halt. Sie sieht sich um. Der Weg über den Flur scheint ihr weiter als gewöhnlich.
In der Welt vor dem Fenster wird das künstliche Licht der Straßenlaternen von der schummrigen Dämmerung abgelöst. Ruth hat keine Zeit hier zu stehen. Sie weiß das.
Auf wackligen Beinen suchen ihre trüben Augen nach einem Versteck. Sie findet den Lagerraum am Ende des Flures. Ruth wird den Tag in diesem Gebäude verbringen.
Wankend steht sie vor der Fensterscheibe. Ohne Halt. Sie sieht sich um. Der Weg über den Flur scheint ihr weiter als gewöhnlich.
In der Welt vor dem Fenster wird das künstliche Licht der Straßenlaternen von der schummrigen Dämmerung abgelöst. Ruth hat keine Zeit hier zu stehen. Sie weiß das.
Auf wackligen Beinen suchen ihre trüben Augen nach einem Versteck. Sie findet den Lagerraum am Ende des Flures. Ruth wird den Tag in diesem Gebäude verbringen.
Der
Lagerraum ist kalt. Ruth legt ihre Finger auf den Lichtschalter neben
der Tür, die sie leise schließt. L-förmig liegt der Raum vor ihr.
Aus den sterilen Regalen quellen Kugelschreiber und Briefumschläge
verschiedener Größen. Vor dem Fenster sieht Ruth Kartons stehen.
Dazwischen liegt ein alter Teppich in Falten. Ruth macht zwei schwere
Schritte auf die Kartons zu, rückt den Teppich grade. Einen der
Kartons, der leichter zu heben ist, als es den Anschein hatte, stellt
Ruth unter das Fenster. Sie nickt der kleinen Zuflucht zu, bevor sie
zurück zur Tür geht, um das Licht auszuschalten. Ihre Augen
gewöhnen sich schnell an das trübe Licht. Im Flur vor dem Lagerraum
füllen erste Stimmen den Büroalltag. Ruth kriecht auf allen Vieren
in ihre kleine Zuflucht. Ihre Wadenmuskeln verkrampfen sich. Ruth
beißt auf ihre Unterlippe bis sie Blut schmeckt. Sie darf keinen
Laut von sich geben. Ruth weiß das. Der Geruch von schweißnasser
Angst füllt den kleinen Lagerraum bis unter die Decke aus. Ihren
Rücken lehnt sie gegen den Karton vor dem Fenster. Vor der Tür
gehen die Angestellten auf und ab. Mit jedem ihrer Schritte will Ruth
tiefer zwischen die Kartons kriechen. Sie versucht ihre Gedanken fort
zu lenken. An einen anderen Ort, eine Erinnerung. Die stechenden
Schmerzen holen sie ins Jetzt zurück, zurück in den Lagerraum. Ruth
will nicht wissen, woher die Schmerzen kommen. Es ist nichts, will
sie sich selbst belügen.
Die
Klinke der Tür bewegt sich nach unten. Ruth zieht ihre Beine an.
Durch den Flur schallt eine Stimme. Die Klinke schnellt zurück in
ihre ursprüngliche Position. Ruth hört Schritte, die sich
entfernen. Ruth atmet die schweißnasse Angst aus. Ihre Lunge
brennt. Sie schließt die Augen, zählt ihre Atemzüge. Der Schmerz
zieht sich erneut durch jede Faser ihres Körpers. Die angezogenen
Beine zittern. Ruth ballt ihre rechte Hand zu einer Faust. Die Reste
ihrer abgekauten Fingernägel bohren sich in den Handballen. Es ist
ein anderer Schmerz. Ruth versenkt sich darin. Sie will nicht fühlen.
Hinter ihren geschlossenen Liedern zucken Bilder durch ihre Gedanken.
Die Gasse, durch die der Fremde sie vor Monaten zog. Ruth schüttelt
den Kopf. Das Gesicht ihrer Mutter tanzt zu einer grinsenden Fratze
verzogen durch ihr Inneres. Sie wird sich fragen, warum Ruth nicht
nach Hause kommt. Sie wird zornig in ihrem Bett liegen und den Stock
neben der Tür anstarren. Sie wird sich wünschen, sie hätte die
Kraft aufzustehen. Ruth hört das kehlige Lachen als der Schmerz ihr
erneut in die Glieder fährt. Es gibt kein Entkommen. Ruth weiß das.
Zwischen
ihren unterdrückten Schreien und der blutig gebissenen Unterlippe
vergeht vor der Tür des Lagerraumes der Büroalltag, als gäbe es
sie nicht. Die Angestellten, deren Schreibtische Ruth dreimal
wöchentlich vorsichtig mit einem feuchten Tuch abwischt, erzählen
sich zwischen der Mittagspause und dem Nachmittagskaffee Geschichten
über die sportlichen Erfolge ihrer Kinder.
Ruths
Körper hat sich ohne ihr Zutun auf die Seite gewälzt. Der Teppich
hält die Kälte des harten Bodens kaum ab. Ruth hört auf das
Gemurmel der Stimmen, die in unregelmäßigen Abständen an der Tür
vorbei gehen. In dem trüben Tageslicht starrt sie auf die Wand
hinter den Kartons, als könnte sie hindurch sehen, strengte sie sich
nur genügend an. Als würde sie würde dahinter ein anderes Leben
sehen können. Ein Leben ohne Schmerzen und ohne die schweißnasse
Angst, die sie seit Stunden einatmet. Sie wäre glücklich und müsste
nicht die Papierkörbe anderer Leute ausleeren oder die Kissen ihrer
Mutter aufschütteln. Ruth erlaubt sich selten Träume; ihre Wünsche
hat sie längst unter den rosafarbenen Teppich in ihrem Kinderzimmer
gekehrt. In ihrem Leben ist kein Platz für Wünsche. Ruth weiß das.
Es
ist still geworden in den Fluren, die den kleinen Raum umschließen.
Ruth tritt gebeugt in die Welt auf der anderen Seite der Tür.
In
ihrer Hand hält sie eine wimmernde Plastiktüte. Im
Gesicht den Ausdruck teilnahmsloser Selbstverständlichkeit trägt
sie die Tüte aus dem Bürogebäude hinaus auf die Straße.
Vernebelte Gedanken bemühen sich um Klarheit. Es ist unmöglich, die
wimmernde Plastiktüte auf den nächstgelegenen Treppenstufen
abzulegen, ihr den Rücken zu kehren und sich nie wieder umzusehen.
Zeit ist etwas kostbares, durchzuckt es Ruth. Unwillkürlich
schüttelt sie das an ihrem Handgelenk baumelnde Plastik, als das
Wimmern droht die Straßengeräusche zu übertönen. Ziellos setzt
Ruth einen Schritt hinter den anderen. Der Weg in das Haus ihrer
Mutter scheint ihr für den Moment unwiderruflich versperrt. Ruth
sieht sich um, mitten in einer fremden Gegend steht sie zwischen
Rotklinkerbauten. Wie lange sie gelaufen ist, weiß Ruth nicht. Der
symmetrisch bebaute Teil der Stadt scheint menschenleer. In nicht
allzu weiter Ferne schlagen Kirchenglocken. Ruth reckt den kurzen
Hals und lenkt ihre Schritte in die vermutete Richtung der Kirche.
Die
Schritte sind schmerzhaft. Brennend frisst sich der Asphalt durch
ihre Schuhsohlen und in ihr Gewissen. Sie hat keine Wahl. Die
Plastiktüte wimmert. Ruth verschließt ihre Ohren. Konzentriert sich
darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das
Gewicht der Plastiktüte nimmt zu. Ruth beschleunigt ihre Schritte,
erstickt den Wunsch den Schmerz in das vorstädtische Idyll zu
schreien in ihrem Inneren. In der Dämmerung schiebt sich die Kirche
stumm in ihr Blickfeld. Über den Stufen zum Eingang breitet sich ein
bedrohlicher Vorsprung aus. Die alten Steine strahlen vorwurfsvoll
auf den gepflasterten Weg. Ruth stolpert über unebenes
Kopfsteinpflaster dem Portal entgegen. Zwischen
Rosensträuchern und Stiefmütterchen entledigt Ruth sich eilig der
Plastiklast.
Zeit ist kostbar. Ruth wendet schwerfällig ihren runden Körper. Duckt sich in der beginnenden Dunkelheit zwischen den Schatten der Straßenlaternen, verfolgt von dem Gefühl einer unbesiegbaren Schuld.
Auf dem Bordstein blutet eine kopflose Amsel rostrot auf den schwarzen Asphalt. Über Ruths Wangen schleichen kalte Tränen beim Anblick des toten Vogels. Vorsichtig bückt sie sich hinunter. Aus ihrer Tasche kramt sie ein Taschentuch, schlägt den noch warmen Körper darin ein. Die Minuten vergehen im Sekundentakt. Ruth atmet schwer, nach einer geeigneten Grabstelle suchend, entfernt sie sich gezählte Schritte weiter von der stummen Kirche. Das Taschentuch färbt sich in tiefe Rottöne, als Ruth eine Verkehrsinsel bemerkt. Mit bloßen Händen hebt sie nach Luft ringend eine Grube aus, legt die Amsel hinein. Die Erde schiebt sie schnell über das grau scheinende Gefieder. Ein greller Schrei reißt den Beginn der Nacht in Stücke.
Zeit ist kostbar. Ruth wendet schwerfällig ihren runden Körper. Duckt sich in der beginnenden Dunkelheit zwischen den Schatten der Straßenlaternen, verfolgt von dem Gefühl einer unbesiegbaren Schuld.
Auf dem Bordstein blutet eine kopflose Amsel rostrot auf den schwarzen Asphalt. Über Ruths Wangen schleichen kalte Tränen beim Anblick des toten Vogels. Vorsichtig bückt sie sich hinunter. Aus ihrer Tasche kramt sie ein Taschentuch, schlägt den noch warmen Körper darin ein. Die Minuten vergehen im Sekundentakt. Ruth atmet schwer, nach einer geeigneten Grabstelle suchend, entfernt sie sich gezählte Schritte weiter von der stummen Kirche. Das Taschentuch färbt sich in tiefe Rottöne, als Ruth eine Verkehrsinsel bemerkt. Mit bloßen Händen hebt sie nach Luft ringend eine Grube aus, legt die Amsel hinein. Die Erde schiebt sie schnell über das grau scheinende Gefieder. Ein greller Schrei reißt den Beginn der Nacht in Stücke.
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