Sonntag, 14. Februar 2016

Jakobs Ketten - Zwei -

Es ist früh. Die Glasfassade gibt den Blick auf einige wenige Passanten frei, die durch morgendliche Stille hetzen. Die Dunkelheit wird künstlich durch das Licht der Straßenlaternen gestört. Ruth steht vor dem großen Bibliotheksfenster im fünften Stock. Eine raue Hand presst sie gegen das Glas, stemmt die andere in den Rücken. Die Haut um die Fingernägel ist eingerissen. Gestern hatte das Nagelbett noch geblutet. Ruth hat ungeduldig auf den Hautfetzen und an ihren Daumen gekaut, während ein kleines rostrotes Rinnsal sich wie eine Tätowierung um ihre Finger gewunden hat.
Sie sollte die Hand von der Scheibe nehmen. Ruth weiß das. Der schmierige Abdruck ihrer Finger wird von weitem auf der sonst makellos glänzenden Scheibe zu sehen sein, kaum dass etwas Licht darauf fällt. Ihre Hand verstärkt selbstbestimmt den Druck auf die Scheibe. Was, wenn sie bräche? In tausende und abertausende kleine Splitter, die auf dem sich wellenden Teppichboden ein Muster ergeben und auf die Straße hinunter fallen würde. Und bevor Ruth sich einen anderen Halt suchen könnte, würde sie dem Scherbenregen folgen, sich vielleicht einmal um sich selbst drehen im freien Fall. Sie würde das Bewusstsein verlieren, bevor ihr massiger und kleiner Körper auf den Asphalt im künstlichen Licht der Straßenlaterne aufschlüge und es wäre alles still.
Geschäftsmänner, die sich in unscheinbar wirkenden grauen oder schwarzen Wintermänteln verstecken, hasten über den Bordstein. Ruths Lippen formen einen Schrei, die wulstigen Knie brechen auf den Teppich nieder. Die in den Rücken gestemmte Hand sucht sich einen neuen Platz, wunde Finger bohren sich in die Fasern neben dem linken Knie, finden keinen Halt. Die rechte Hand brennt. Sie hat den Druck nicht verringert, ist an der Glasscheibe heruntergerutscht auf die Höhe in der Ruth ihren gesenkten Kopf hält. Eine fettige Spur hat sie über das stabile Fensterglas gezogen.
Ruth versucht sich aufzurichten. Sie kann hier nicht bleiben. Ruth weiß das. Bald werden die ersten Angestellten das Gebäude und kurz danach das Stockwerk betreten. Sie werden ihre Computer anschalten und sich ihrer Arbeit widmen. Es könnte noch ein paar Stunden dauern, bis der erste seinen Weg in die Bibliothek findet. Ruth wird dann nicht zusammen gekauert vor der Fensterscheibe knien. Die Vorstellung, Fremde würden auf sie hinunter sehen wie sie dort läge, spült eine gewaltige Welle Scham über Ruth hinweg. Mühsam nimmt Ruth die Hand von der Fensterscheibe. Sie befiehlt ihrem ungehorsamen Körper sich zu bewegen. Zunächst gehen ihre Beine in die Hocke. Ruth atmet unter dem Druck auf ihren kurzen Beinen schwer. Sie zählt. Fünf, vier, drei, zwei – ein Ruck fährt durch ihren Körper.
Wankend steht sie vor der Fensterscheibe. Ohne Halt. Sie sieht sich um. Der Weg über den Flur scheint ihr weiter als gewöhnlich.
In der Welt vor dem Fenster wird das künstliche Licht der Straßenlaternen von der schummrigen Dämmerung abgelöst. Ruth hat keine Zeit hier zu stehen. Sie weiß das.
Auf wackligen Beinen suchen ihre trüben Augen nach einem Versteck. Sie findet den Lagerraum am Ende des Flures. Ruth wird den Tag in diesem Gebäude verbringen.
Der Lagerraum ist kalt. Ruth legt ihre Finger auf den Lichtschalter neben der Tür, die sie leise schließt. L-förmig liegt der Raum vor ihr. Aus den sterilen Regalen quellen Kugelschreiber und Briefumschläge verschiedener Größen. Vor dem Fenster sieht Ruth Kartons stehen. Dazwischen liegt ein alter Teppich in Falten. Ruth macht zwei schwere Schritte auf die Kartons zu, rückt den Teppich grade. Einen der Kartons, der leichter zu heben ist, als es den Anschein hatte, stellt Ruth unter das Fenster. Sie nickt der kleinen Zuflucht zu, bevor sie zurück zur Tür geht, um das Licht auszuschalten. Ihre Augen gewöhnen sich schnell an das trübe Licht. Im Flur vor dem Lagerraum füllen erste Stimmen den Büroalltag. Ruth kriecht auf allen Vieren in ihre kleine Zuflucht. Ihre Wadenmuskeln verkrampfen sich. Ruth beißt auf ihre Unterlippe bis sie Blut schmeckt. Sie darf keinen Laut von sich geben. Ruth weiß das. Der Geruch von schweißnasser Angst füllt den kleinen Lagerraum bis unter die Decke aus. Ihren Rücken lehnt sie gegen den Karton vor dem Fenster. Vor der Tür gehen die Angestellten auf und ab. Mit jedem ihrer Schritte will Ruth tiefer zwischen die Kartons kriechen. Sie versucht ihre Gedanken fort zu lenken. An einen anderen Ort, eine Erinnerung. Die stechenden Schmerzen holen sie ins Jetzt zurück, zurück in den Lagerraum. Ruth will nicht wissen, woher die Schmerzen kommen. Es ist nichts, will sie sich selbst belügen.
Die Klinke der Tür bewegt sich nach unten. Ruth zieht ihre Beine an. Durch den Flur schallt eine Stimme. Die Klinke schnellt zurück in ihre ursprüngliche Position. Ruth hört Schritte, die sich entfernen. Ruth atmet die schweißnasse Angst aus. Ihre Lunge brennt. Sie schließt die Augen, zählt ihre Atemzüge. Der Schmerz zieht sich erneut durch jede Faser ihres Körpers. Die angezogenen Beine zittern. Ruth ballt ihre rechte Hand zu einer Faust. Die Reste ihrer abgekauten Fingernägel bohren sich in den Handballen. Es ist ein anderer Schmerz. Ruth versenkt sich darin. Sie will nicht fühlen. Hinter ihren geschlossenen Liedern zucken Bilder durch ihre Gedanken. Die Gasse, durch die der Fremde sie vor Monaten zog. Ruth schüttelt den Kopf. Das Gesicht ihrer Mutter tanzt zu einer grinsenden Fratze verzogen durch ihr Inneres. Sie wird sich fragen, warum Ruth nicht nach Hause kommt. Sie wird zornig in ihrem Bett liegen und den Stock neben der Tür anstarren. Sie wird sich wünschen, sie hätte die Kraft aufzustehen. Ruth hört das kehlige Lachen als der Schmerz ihr erneut in die Glieder fährt. Es gibt kein Entkommen. Ruth weiß das.
Zwischen ihren unterdrückten Schreien und der blutig gebissenen Unterlippe vergeht vor der Tür des Lagerraumes der Büroalltag, als gäbe es sie nicht. Die Angestellten, deren Schreibtische Ruth dreimal wöchentlich vorsichtig mit einem feuchten Tuch abwischt, erzählen sich zwischen der Mittagspause und dem Nachmittagskaffee Geschichten über die sportlichen Erfolge ihrer Kinder.
Ruths Körper hat sich ohne ihr Zutun auf die Seite gewälzt. Der Teppich hält die Kälte des harten Bodens kaum ab. Ruth hört auf das Gemurmel der Stimmen, die in unregelmäßigen Abständen an der Tür vorbei gehen. In dem trüben Tageslicht starrt sie auf die Wand hinter den Kartons, als könnte sie hindurch sehen, strengte sie sich nur genügend an. Als würde sie würde dahinter ein anderes Leben sehen können. Ein Leben ohne Schmerzen und ohne die schweißnasse Angst, die sie seit Stunden einatmet. Sie wäre glücklich und müsste nicht die Papierkörbe anderer Leute ausleeren oder die Kissen ihrer Mutter aufschütteln. Ruth erlaubt sich selten Träume; ihre Wünsche hat sie längst unter den rosafarbenen Teppich in ihrem Kinderzimmer gekehrt. In ihrem Leben ist kein Platz für Wünsche. Ruth weiß das.
Es ist still geworden in den Fluren, die den kleinen Raum umschließen. Ruth tritt gebeugt in die Welt auf der anderen Seite der Tür.

In ihrer Hand hält sie eine wimmernde Plastiktüte. Im Gesicht den Ausdruck teilnahmsloser Selbstverständlichkeit trägt sie die Tüte aus dem Bürogebäude hinaus auf die Straße. Vernebelte Gedanken bemühen sich um Klarheit. Es ist unmöglich, die wimmernde Plastiktüte auf den nächstgelegenen Treppenstufen abzulegen, ihr den Rücken zu kehren und sich nie wieder umzusehen. Zeit ist etwas kostbares, durchzuckt es Ruth. Unwillkürlich schüttelt sie das an ihrem Handgelenk baumelnde Plastik, als das Wimmern droht die Straßengeräusche zu übertönen. Ziellos setzt Ruth einen Schritt hinter den anderen. Der Weg in das Haus ihrer Mutter scheint ihr für den Moment unwiderruflich versperrt. Ruth sieht sich um, mitten in einer fremden Gegend steht sie zwischen Rotklinkerbauten. Wie lange sie gelaufen ist, weiß Ruth nicht. Der symmetrisch bebaute Teil der Stadt scheint menschenleer. In nicht allzu weiter Ferne schlagen Kirchenglocken. Ruth reckt den kurzen Hals und lenkt ihre Schritte in die vermutete Richtung der Kirche. 
Die Schritte sind schmerzhaft. Brennend frisst sich der Asphalt durch ihre Schuhsohlen und in ihr Gewissen. Sie hat keine Wahl. Die Plastiktüte wimmert. Ruth verschließt ihre Ohren. Konzentriert sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das Gewicht der Plastiktüte nimmt zu. Ruth beschleunigt ihre Schritte, erstickt den Wunsch den Schmerz in das vorstädtische Idyll zu schreien in ihrem Inneren. In der Dämmerung schiebt sich die Kirche stumm in ihr Blickfeld. Über den Stufen zum Eingang breitet sich ein bedrohlicher Vorsprung aus. Die alten Steine strahlen vorwurfsvoll auf den gepflasterten Weg. Ruth stolpert über unebenes Kopfsteinpflaster dem Portal entgegen. Zwischen Rosensträuchern und Stiefmütterchen entledigt Ruth sich eilig der Plastiklast.
Zeit ist kostbar. Ruth wendet schwerfällig ihren runden Körper. Duckt sich in der beginnenden Dunkelheit zwischen den Schatten der Straßenlaternen, verfolgt von dem Gefühl einer unbesiegbaren Schuld.
Auf dem Bordstein blutet eine kopflose Amsel rostrot auf den schwarzen Asphalt. Über Ruths Wangen schleichen kalte Tränen beim Anblick des toten Vogels. Vorsichtig bückt sie sich hinunter. Aus ihrer Tasche kramt sie ein Taschentuch, schlägt den noch warmen Körper darin ein. Die Minuten vergehen im Sekundentakt. Ruth atmet schwer, nach einer geeigneten Grabstelle suchend, entfernt sie sich gezählte Schritte weiter von der stummen Kirche. Das Taschentuch färbt sich in tiefe Rottöne, als Ruth eine Verkehrsinsel bemerkt. Mit bloßen Händen hebt sie nach Luft ringend eine Grube aus, legt die Amsel hinein. Die Erde schiebt sie schnell über das grau scheinende Gefieder. Ein greller Schrei reißt den Beginn der Nacht in Stücke.

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