Sonntag, 14. Februar 2016

Fundstücke


Die Fassade des Hauses schien einst strahlend weiß durch die Efeuranken, die sich im Laufe der Jahre unverrückbaren Halt im Mauerwerk gesucht hatten. In regelmäßigen Abständen waren sie zurückgeschnitten worden, hatten sich jedoch in ihrer Sturheit und im Wachsen nicht beirren lassen. Mit den vergehenden Jahrzehnten ergraute die Fassade hinter den grünen Efeuranken. Und so stand Edgar in Gummistiefeln, die ihm eine Nummer zu groß waren, so dass er mit jedem Schritt einen unangenehm quietschenden Ton in der Gartenluft zurück ließ vor dem grauen Haus, das ihm in den Tagen seiner Kindheit so viel imposanter erschienen war.
Seine kalten Hände klammerten sich um das Metallgestell, das vor einer ungeheuren Ewigkeit die Schaukel gehalten hatte, von der er seine Schwester mehr als nur einmal herunter schubste. Manches Mal hatte seine Großmutter schwungvoll das Küchenfenster aufgestoßen, die Arme mehlbedeckt, und ihn zur Ordnung gerufen. Rücksicht solle er nehmen, vernünftig sein, sei er doch ihr großer Junge, der ihr liebste Enkel. Den Griff fest um das Metall gelegt, lächelte Edgar bei dem Blick auf das Küchenfenster, erwartete fast, es würde sich jede Sekunde öffnen. Hinter dem Fenster, das wusste Edgar, lag die verwaiste Küche. Die Erinnerung abschüttelnd, löste er sich von dem Metallgestell, wankte haltlos mit quietschenden Schritten auf die Eingangstür zu, an der noch immer der schwere Türklopfer hing, ein aus Messing gefertigter Karpfen. Langsam fuhr Edgar mit dem Zeigefinger die Linien der Schuppen des Tieres nach. Der Wind unter dem Vordach fuhr ihm sanft durch das schwarze Haar, wie es die Hand des Großvaters zuweilen getan hatte.
Mit einem Ruck öffnete Edgar die Tür. Vor ihm breitete sich die Diele aus. Beherzte Schritte führten ihn vorbei an der mit einem Laken abgedeckten Kommode, auf der die Familie in silbernen Rahmen eingesperrt die Besucher zu empfangen pflegte. Das Haus, das ihm so vertraut war, schien ihm unvermittelt fremd. Mit jedem quietschenden Schritt verlor sich Edgar mehr in Erinnerungen, die nicht mehr zu diesem Ort passen wollten. An den kahlen Wänden zeugten Ränder auf der Tapete davon, dass dort in helleren Tagen Gemälde gehangen hatten. Flüchtig blickte Edgar in das Wohnzimmer, in dem er so oft vor dem Kamin zu den Füßen seines Großvaters gesessen hatte. Der alte Mann hatte ihm Geschichten erzählt von Riesen, Drachen und mutigen Prinzen, die dazu geschaffen waren, eine erfundene Welt zu retten.
Sei ein Prinz. Hatte der Großvater ihm am Ende jeder Geschichte gesagt und Edgar hatte ernsthaft genickt, obwohl er nicht wusste, wie er es anstellen sollte, ein Prinz zu sein. Er ließ sich von seinem Großvater zu Bett bringen und sein kindliches Herz traute sich doch nicht, den alten Mann zu fragen, wie er zu einem Prinz werden könne.
Mit jedem Jahr, das verging wurde Edgar stärker und der alte Mann zerbrechlicher. Edgar sah mit an, wie die Hände seines Großvaters zu zittern begannen. Beobachtete, wie dem alten Mann die Erbsen von der Gabel fielen und sein Stolz zu brechen drohte. Edgar bemühte sich, den Großvater nicht spüren zu lassen, dass der Verfall so deutlich war. Er hielt kaum aus, der Verwandlung des starken Mannes, der ihm Vorbild und Ratgeber, Vertrauter und Freund gewesen war, in stiller Hilflosigkeit beiwohnen zu müssen. Edgar haderte mit dem Schicksal, während die Geschichten vor dem Kamin wirr wurden. Sie handelten schon lange nicht mehr von Drachen oder Riesen, sondern von Kriegen und Kämpfen einer realen Welt. Und doch hielt der Großvater an seinem Ratschlag fest:
Sei ein Prinz.
In einer Dezembernacht ertrug Edgar die Nähe zu seinem Großvater nicht länger, packte eine Reisetasche und verließ das unter dem Efeu grau schimmernde Haus. Er hinterließ keinen Abschiedsgruß, obwohl er sicher war, dass ein Prinz, wäre er schon geflohen, genau das getan hätte. Edgar bereiste die Welt, die Reisetasche immer auf der Schulter, den Blick rückwärtsgewandt, kämpfte er mit den Drachen und Riesen in seinem Inneren. Er schlich im Busch Australiens durch das Unterholz und wanderte über zahllose Sandkörner in den Wüsten der Erde, bis seine Füße blutig waren und seine Haut in sonnenverbrannten Fetzen hing. Die Schuld aber wollte ihn nicht freilassen. Er wusste zu genau um seine Feigheit.
Stets war er mit den Gedanken bei dem grauen Haus unter den Efeuranken, fragte sich, ob sie zurückgeschnitten werden müssten, ob die Schaukel im Garten noch stünde und sein Großvater Geschichten erzählte, alleine vor einem Kamin, in dem niemand mehr das Feuer schürte.
Die Riemen der Reisetasche schnitten ihm tief ins Fleisch als ihn die Nachricht erreichte, sein Großvater sei eingeschlafen und einfach nicht mehr aufgewacht. Edgar saß auf einer Bordsteinkante in einer fremden Stadt, deren Name ihm entfallen war oder den er nie gekannt hatte, schlug die Hände vor die weinenden Augen und riss sich das schwarze Haar in Büscheln aus. Ein Windhauch strich ihm über den Rücken, wie es in Kindertagen die Hand seines Großvaters getan hatte. Und Edgar nahm sich zusammen, schulterte ein letztes Mal die Reisetasche. Und stand plötzlich in der Diele grauen Hauses, quietschende Gummistiefel an den Füßen und Dämonen im Herzen, die ihn zu Boden ringen drohten.
Edgar sog die verlebte Luft der Wände um ihn herum ein, straffte die Schultern und schritt die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die fünfte Stufe ließ er automatisch aus. Sie knarrte und er hatte sich in einem anderen Leben angewöhnt, sie zu überspringen. Vorsichtig, nahezu bedächtig, öffnete er die Tür zu dem Zimmer, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Über das schmale Bett war ein Laken geworfen worden, die Schranktüren waren fest verschlossen. Edgar setzte sich auf die Fensterbank, sah hinaus in den Garten. Das Metallgestell ragte ihm trostlos entgegen. Wie lange er dort am Fenster gesessen und hinausgesehen hatte, vermochte er nicht zu sagen. Die Erinnerung an die glücklichen Tage, an denen er mit seiner Schwester über den Rasen, der nie ein englischer gewesen, sondern von Gänseblümchen und Löwenzahn durchzogen war, wollte sich nicht wiederfinden lassen und so wandte Edgar seinen Blick zurück in das kleine Zimmer, streifte über das Bett, an dem Bauernschrank vorbei und blieb schließlich an dem Schreibtisch hängen, an dem er Stunde um Stunde über den Rätseln der Integralrechnung gebrütet hatte. Wie über alle Möbel war auch über den Schreibtisch ein Laken geworfen worden. Seine Schwester hatte ganze Arbeit geleistet. Edgar pfiff leise anerkennend durch die Zähne, verließ das Zimmer in der festen Absicht nicht mehr zurückzusehen.
Unschlüssig stand er vor der Tür hinter der sich das Zimmer seines Großvaters befand. Aus dem letzten Winkel seines Selbst kratzte er einen Funken Mut zusammen und drückte die Klinke hinunter. Der Geruch des alten Mannes hing über dem Dielenboden wie dichter Nebel an einem Novembermorgen über den Spitzen einer Bergkette hängt. Edgar spürte den brennenden Wunsch, sich einmal mehr davon zu stehlen. Er verbot sich dieses eine Mal das Fortlaufen, heftete seinen Blick auf das Bett, in dem der alte Mann seinen letzten Atemzug getan hatte. Das Licht war fahl geworden. Vor dem grau schimmernden Haus löste der Abend langsam den späten Nachmittag ab. Edgar kniff die Augen zusammen. Auf dem Laken, dass seine Schwester auch über dieses Bett hatte werfen lassen, am Kopfende des Bettes, lag ein Umschlag. Edgar trat näher heran. Mühelos erkannte er die geschwungene Handschrift seines Großvaters. In sauberen, mit einem Füllfederhalter gemalten Lettern las er seinen Namen auf dem blendend weißen Umschlag.
Unwirklich schien ihm der unerwartete Gruß des Toten. Sein Herz schlug in seine Magengrube durch, ballte sich zu einem Knoten aus Angst und Übelkeit. So oft hatte Edgar daran gedacht, was die letzten Worte des alten Mannes an ihn gewesen sein hätten. Zwiesprache hatte er mit ihm gehalten, abertausende Kilometer entfernt. Nun, da er in Händen hielt, durch einen Zufall gefunden hatte, was der alte Mann ihm noch zu sagen hatte, wollte er nichts davon lesen. Edgar drehte den Umschlag in den Händen, bereit ihn in kleine Stücke zu zerreißen. Er war sich sicher, die Zeilen im Inneren konnten nichts anderes enthalten als buchstabengewordene Schuldzuweisungen. Wie, fragte Edgar sich seit seinem Aufbruch in jener Dezembernacht, sollte der alte Mann ihm je verzeihen können, was er sich selbst nicht nachzusehen vermochte. Seine Hände weigerten sich dem Befehl Folge zu leisten, das wattierte Papier in unleserliche Streifen zu verwandeln.
Edgar setzte sich auf die Bettkante, auf der er als Kind häufig Trost gesucht hatte, konnte er nicht schlafen, jagten ihn beängstigend gesichtslose Schattengestalten durch seine Träume. Die Fenster des grau schimmernden Hauses waren fest verschlossen und doch spürte Edgar wie ein leiser Luftzug ihm sanft um die Schultern strich, für einen kurzen Moment, so wie es die aufmunternd ermutigende Hand seines Großvaters oft getan hatte. Edgar hieß sein Herz den Schlag zu verlangsamen, atmete den Geruch des Zimmers, des alten Mannes mit ruhiger Innbrunst ein. Seine Hände öffneten bedächtig den Umschlag, zogen den sorgsam gefalteten Briefbogen hinaus. Im Garten wirbelte das Laub um das alte Metallgestell, eine Tür schlug zu. Edgar saß versunken über dem Bogen Papier in seinen Händen. Die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt lasen seine zusammen gekniffenen Augen einen einzigen Satz, unverkennbar in der Handschrift seines Großvaters geschrieben:
Du bist mein Prinz.
Seine Schwester fand Edgar zusammen gesunken auf der Bettkante sitzend vor. Die Tinte auf dem blendend weißen Papier war von heißen Tränen verwischt. Leise nahm sie ihren Bruder am Arm, führte ihn aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Die fünfte Stufe ließen sie aus. Die Gummistiefel quietschten auf dem Weg durch den Garten, vorbei an dem alten Metallgestell. Edgar ließ sich bereitwillig führen, stützte sich auf seine Schwester, die er so oft von der Schaukel geschubst hatte. Fest an die Brust gedrückt hielt er den verwischten letzten Satz des alten Mannes, der ihm über sein Leben hinaus die liebende Treue gehalten hatte.

 Als sich das Gartentor hinter ihnen schloss, fand Edgar seinen ureigenen Frieden und blickte nie mehr zurück.

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