Die Fassade des
Hauses schien einst strahlend weiß durch die Efeuranken, die sich im
Laufe der Jahre unverrückbaren Halt im Mauerwerk gesucht hatten. In
regelmäßigen Abständen waren sie zurückgeschnitten worden, hatten
sich jedoch in ihrer Sturheit und im Wachsen nicht beirren lassen.
Mit den vergehenden Jahrzehnten ergraute die Fassade hinter den
grünen Efeuranken. Und so stand Edgar in Gummistiefeln, die ihm eine
Nummer zu groß waren, so dass er mit jedem Schritt einen unangenehm
quietschenden Ton in der Gartenluft zurück ließ vor dem grauen
Haus, das ihm in den Tagen seiner Kindheit so viel imposanter
erschienen war.
Seine kalten
Hände klammerten sich um das Metallgestell, das vor einer ungeheuren
Ewigkeit die Schaukel gehalten hatte, von der er seine Schwester mehr
als nur einmal herunter schubste. Manches Mal hatte seine Großmutter
schwungvoll das Küchenfenster aufgestoßen, die Arme mehlbedeckt,
und ihn zur Ordnung gerufen. Rücksicht solle er nehmen, vernünftig
sein, sei er doch ihr großer Junge, der ihr liebste Enkel. Den Griff
fest um das Metall gelegt, lächelte Edgar bei dem Blick auf das
Küchenfenster, erwartete fast, es würde sich jede Sekunde öffnen.
Hinter dem Fenster, das wusste Edgar, lag die verwaiste Küche. Die
Erinnerung abschüttelnd, löste er sich von dem Metallgestell,
wankte haltlos mit quietschenden Schritten auf die Eingangstür zu,
an der noch immer der schwere Türklopfer hing, ein aus Messing
gefertigter Karpfen. Langsam fuhr Edgar mit dem Zeigefinger die
Linien der Schuppen des Tieres nach. Der Wind unter dem Vordach fuhr
ihm sanft durch das schwarze Haar, wie es die Hand des Großvaters
zuweilen getan hatte.
Mit einem Ruck
öffnete Edgar die Tür. Vor ihm breitete sich die Diele aus.
Beherzte Schritte führten ihn vorbei an der mit einem Laken
abgedeckten Kommode, auf der die Familie in silbernen Rahmen
eingesperrt die Besucher zu empfangen pflegte. Das Haus, das ihm so
vertraut war, schien ihm unvermittelt fremd. Mit jedem quietschenden
Schritt verlor sich Edgar mehr in Erinnerungen, die nicht mehr zu
diesem Ort passen wollten. An den kahlen Wänden zeugten Ränder auf
der Tapete davon, dass dort in helleren Tagen Gemälde gehangen
hatten. Flüchtig blickte Edgar in das Wohnzimmer, in dem er so oft
vor dem Kamin zu den Füßen seines Großvaters gesessen hatte. Der
alte Mann hatte ihm Geschichten erzählt von Riesen, Drachen und
mutigen Prinzen, die dazu geschaffen waren, eine erfundene Welt zu
retten.
Sei ein Prinz.
Hatte der Großvater ihm am Ende jeder Geschichte gesagt und Edgar
hatte ernsthaft genickt, obwohl er nicht wusste, wie er es anstellen
sollte, ein Prinz zu sein. Er ließ sich von seinem Großvater zu
Bett bringen und sein kindliches Herz traute sich doch nicht, den
alten Mann zu fragen, wie er zu einem Prinz werden könne.
Mit jedem Jahr,
das verging wurde Edgar stärker und der alte Mann zerbrechlicher.
Edgar sah mit an, wie die Hände seines Großvaters zu zittern
begannen. Beobachtete, wie dem alten Mann die Erbsen von der Gabel
fielen und sein Stolz zu brechen drohte. Edgar bemühte sich, den
Großvater nicht spüren zu lassen, dass der Verfall so deutlich war.
Er hielt kaum aus, der Verwandlung des starken Mannes, der ihm
Vorbild und Ratgeber, Vertrauter und Freund gewesen war, in stiller
Hilflosigkeit beiwohnen zu müssen. Edgar haderte mit dem Schicksal,
während die Geschichten vor dem Kamin wirr wurden. Sie handelten
schon lange nicht mehr von Drachen oder Riesen, sondern von Kriegen
und Kämpfen einer realen Welt. Und doch hielt der Großvater an
seinem Ratschlag fest:
Sei ein Prinz.
In einer
Dezembernacht ertrug Edgar die Nähe zu seinem Großvater nicht
länger, packte eine Reisetasche und verließ das unter dem Efeu grau
schimmernde Haus. Er hinterließ keinen Abschiedsgruß, obwohl er
sicher war, dass ein Prinz, wäre er schon geflohen, genau das getan
hätte. Edgar bereiste die Welt, die Reisetasche immer auf der
Schulter, den Blick rückwärtsgewandt, kämpfte er mit den Drachen
und Riesen in seinem Inneren. Er schlich im Busch Australiens durch
das Unterholz und wanderte über zahllose Sandkörner in den Wüsten
der Erde, bis seine Füße blutig waren und seine Haut in
sonnenverbrannten Fetzen hing. Die Schuld aber wollte ihn nicht
freilassen. Er wusste zu genau um seine Feigheit.
Stets war er mit
den Gedanken bei dem grauen Haus unter den Efeuranken, fragte sich,
ob sie zurückgeschnitten werden müssten, ob die Schaukel im Garten
noch stünde und sein Großvater Geschichten erzählte, alleine vor
einem Kamin, in dem niemand mehr das Feuer schürte.
Die Riemen der
Reisetasche schnitten ihm tief ins Fleisch als ihn die Nachricht
erreichte, sein Großvater sei eingeschlafen und einfach nicht mehr
aufgewacht. Edgar saß auf einer Bordsteinkante in einer fremden
Stadt, deren Name ihm entfallen war oder den er nie gekannt hatte,
schlug die Hände vor die weinenden Augen und riss sich das schwarze
Haar in Büscheln aus. Ein Windhauch strich ihm über den Rücken,
wie es in Kindertagen die Hand seines Großvaters getan hatte. Und
Edgar nahm sich zusammen, schulterte ein letztes Mal die Reisetasche.
Und stand plötzlich in der Diele grauen Hauses, quietschende
Gummistiefel an den Füßen und Dämonen im Herzen, die ihn zu Boden
ringen drohten.
Edgar sog die
verlebte Luft der Wände um ihn herum ein, straffte die Schultern und
schritt die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die fünfte Stufe ließ
er automatisch aus. Sie knarrte und er hatte sich in einem anderen
Leben angewöhnt, sie zu überspringen. Vorsichtig, nahezu bedächtig,
öffnete er die Tür zu dem Zimmer, in dem er seine Kindheit
verbracht hatte. Über das schmale Bett war ein Laken geworfen
worden, die Schranktüren waren fest verschlossen. Edgar setzte sich
auf die Fensterbank, sah hinaus in den Garten. Das Metallgestell
ragte ihm trostlos entgegen. Wie lange er dort am Fenster gesessen
und hinausgesehen hatte, vermochte er nicht zu sagen. Die Erinnerung
an die glücklichen Tage, an denen er mit seiner Schwester über den
Rasen, der nie ein englischer gewesen, sondern von Gänseblümchen
und Löwenzahn durchzogen war, wollte sich nicht wiederfinden lassen
und so wandte Edgar seinen Blick zurück in das kleine Zimmer,
streifte über das Bett, an dem Bauernschrank vorbei und blieb
schließlich an dem Schreibtisch hängen, an dem er Stunde um Stunde
über den Rätseln der Integralrechnung gebrütet hatte. Wie über
alle Möbel war auch über den Schreibtisch ein Laken geworfen
worden. Seine Schwester hatte ganze Arbeit geleistet. Edgar pfiff
leise anerkennend durch die Zähne, verließ das Zimmer in der festen
Absicht nicht mehr zurückzusehen.
Unschlüssig
stand er vor der Tür hinter der sich das Zimmer seines Großvaters
befand. Aus dem letzten Winkel seines Selbst kratzte er einen Funken
Mut zusammen und drückte die Klinke hinunter. Der Geruch des alten
Mannes hing über dem Dielenboden wie dichter Nebel an einem
Novembermorgen über den Spitzen einer Bergkette hängt. Edgar spürte
den brennenden Wunsch, sich einmal mehr davon zu stehlen. Er verbot
sich dieses eine Mal das Fortlaufen, heftete seinen Blick auf das
Bett, in dem der alte Mann seinen letzten Atemzug getan hatte. Das
Licht war fahl geworden. Vor dem grau schimmernden Haus löste der
Abend langsam den späten Nachmittag ab. Edgar kniff die Augen
zusammen. Auf dem Laken, dass seine Schwester auch über dieses Bett
hatte werfen lassen, am Kopfende des Bettes, lag ein Umschlag. Edgar
trat näher heran. Mühelos erkannte er die geschwungene Handschrift
seines Großvaters. In sauberen, mit einem Füllfederhalter gemalten
Lettern las er seinen Namen auf dem blendend weißen Umschlag.
Unwirklich schien
ihm der unerwartete Gruß des Toten. Sein Herz schlug in seine
Magengrube durch, ballte sich zu einem Knoten aus Angst und Übelkeit.
So oft hatte Edgar daran gedacht, was die letzten Worte des alten
Mannes an ihn gewesen sein hätten. Zwiesprache hatte er mit ihm
gehalten, abertausende Kilometer entfernt. Nun, da er in Händen
hielt, durch einen Zufall gefunden hatte, was der alte Mann ihm noch
zu sagen hatte, wollte er nichts davon lesen. Edgar drehte den
Umschlag in den Händen, bereit ihn in kleine Stücke zu zerreißen.
Er war sich sicher, die Zeilen im Inneren konnten nichts anderes
enthalten als buchstabengewordene Schuldzuweisungen. Wie, fragte
Edgar sich seit seinem Aufbruch in jener Dezembernacht, sollte der
alte Mann ihm je verzeihen können, was er sich selbst nicht
nachzusehen vermochte. Seine Hände weigerten sich dem Befehl Folge
zu leisten, das wattierte Papier in unleserliche Streifen zu
verwandeln.
Edgar setzte sich
auf die Bettkante, auf der er als Kind häufig Trost gesucht hatte,
konnte er nicht schlafen, jagten ihn beängstigend gesichtslose
Schattengestalten durch seine Träume. Die Fenster des grau
schimmernden Hauses waren fest verschlossen und doch spürte Edgar
wie ein leiser Luftzug ihm sanft um die Schultern strich, für einen
kurzen Moment, so wie es die aufmunternd ermutigende Hand seines
Großvaters oft getan hatte. Edgar hieß sein Herz den Schlag zu
verlangsamen, atmete den Geruch des Zimmers, des alten Mannes mit
ruhiger Innbrunst ein. Seine Hände öffneten bedächtig den
Umschlag, zogen den sorgsam gefalteten Briefbogen hinaus. Im Garten
wirbelte das Laub um das alte Metallgestell, eine Tür schlug zu.
Edgar saß versunken über dem Bogen Papier in seinen Händen. Die
Ellenbogen auf den Knien aufgestützt lasen seine zusammen
gekniffenen Augen einen einzigen Satz, unverkennbar in der
Handschrift seines Großvaters geschrieben:
Du
bist mein Prinz.
Seine Schwester
fand Edgar zusammen gesunken auf der Bettkante sitzend vor. Die Tinte
auf dem blendend weißen Papier war von heißen Tränen verwischt.
Leise nahm sie ihren Bruder am Arm, führte ihn aus dem Zimmer, die
Treppe hinunter. Die fünfte Stufe ließen sie aus. Die Gummistiefel
quietschten auf dem Weg durch den Garten, vorbei an dem alten
Metallgestell. Edgar ließ sich bereitwillig führen, stützte sich
auf seine Schwester, die er so oft von der Schaukel geschubst hatte.
Fest an die Brust gedrückt hielt er den verwischten letzten Satz des
alten Mannes, der ihm über sein Leben hinaus die liebende Treue
gehalten hatte.
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