Das
Gebäude, von außen betrachtet so grau, dass es fast farblos wirkt, ist zu jung
für eine denkmalgeschützte Geschichte, steht still an einer Straßenecke im
falschen Viertel.
Zwischen
Ampelphasen fegt der Verkehrslärm an den schallisolierten Fenstern vorbei; städtische
Ruhelosigkeit umspült die Fassade der 10 Stockwerke.
„Und dann
liegst du da im Staub grau-schwarz getünchter Straßen und holst dir am
wirklichkeitsnahen Asphalt eine blutige Nase.“ Sagt Merle, trinkt einen zu
großen Schluck aus einem Rotweinglas, das einmal ihrer Großmutter gehörte und
einen Goldrand hatte. Mit der freien Hand streicht Merle sich eine
widerspenstige Locke aus dem Gesicht hinter das linke Ohr; sitzt mit
angezogenen Beinen auf einem unbequemen Küchenstuhl.
Auf ihrem
Gesicht liegen Schatten, kleine und große. Für manche trägt die Deckenlampe die
Verantwortung. Für andere eine Vergangenheit, die Merle weder verschweigt noch
austritt.
Die Rotweinflasche
zeichnet einen schmalen Ring auf den vor Stunden geöffneten, unaufmerksam
überflogenen Brief. Die Kerzen auf dem Tisch zündet Merle nie an.
„Ich bin
doch keine Bildunterschrift. ‚Frau trinkt Rotwein bei Kerzenschein‘ sieht aus
wie ein Klischee, das auf Leinwand gebannt das barocke Zeitalter überdauert
hat.“ Sagt Merle, lacht ihr kehliges Lachen, das immer ein bisschen danach
klingt, als würde sie zu husten beginnen, schiebt das ehemals goldrandige
Rotweinglas schräg über den Küchentisch, der kein Erbstück ist.
Die
angezogenen Beine stecken in Pluderhosen, die weder von einer Reise nach Indien
stammen noch selbst genäht sind.
„Ware von
der Stange. Nicht mal bio oder fair trade.“ Sagt Merle, die ihre 28 Lebensjahre
innerhalb der Stadtgrenzen und in weiten Teilen im 5. Stock des farblos grauen
Gebäudes, das jetzt plötzlich im falschen Viertel steht, zugebracht hat. Sie
zuckt mit den Schultern, als wäre ihr alles abgesehen von der Bequemlichkeit
gleichgültig, blickt herausfordernd über den Rand des Rotweins.
Die
grau-braunen Augen, weich gepolstert von einem Ring aus haarfeinen Falten,
blinzeln zwei oder dreimal; die Lust an einer Streiterei verfliegt. Mit einer
ungestümen Bewegung stößt Merle den unbequemen Stuhl zurück. Der unaufmerksam
gelesene Brief hebt sich unauffällig halbseitig von der Tischplatte. Ihr Glas
leerend steht Merle auf und nach einem weiten Schritt in bunten Pluderhosen am
Fenster. Als gäbe es für sie nichts mehr zu tun, richtet sie ihre in Falten
gelegten Augen auf die Verkehrsadern, die 5 Stockwerke unter ihr liegen.
„Und dann
liegst du da im Staub grau-schwarz getünchter Straßen, holst dir am
wirklichkeitsnahen Asphalt eine blutige Nase.“ Sagt Merle, presst alle zehn
Finger an gegen die kühle Fensterscheibe, auf deren Außenseite vom Regen
aufgetragener Schmutz zu einem Muster wird.
Karl hebt
die niedergeschlagenen Lider, ruht seinen Blick auf ihrer Gestalt aus.
„Großstadtromantik.“
Sagt Merle und Karl ist sich nicht sicher, ob sie mit der Fensterscheibe
spricht, aus dem Blick ihrer grau-braunen Augen verloren hat, dass er dort
sitzt; in einem zweiten unbequemen Küchenstuhl, unter einer Deckenlampe, die
Schatten wirft.
„Das Muster
ist immer gleich. Großstadtromantik gibt es nicht. Zwischen dem Beton halten
wir Verkehrsinseln für Grünflächen. Wir geben Sternen Nummern und verzählen uns
im diffusen Licht der Dämmerung; reihen verlogenen, ungehaltene Versprechen
aneinander. Denkst du nicht auch?“ sagt Merle, löst ihre Finger von der
Fensterscheibe, zerknüllt den raschelnden Brief, als verlören die Worte damit
ihre Gültigkeit.
Zwischen
den Rotweingläsern und der Fensterscheibe denkt Karl nicht. Karl fühlt.
Das Gefühl
balanciert über ein Drahtseil. Bemüht sieht Karl nicht nach unten. Jedes Mal,
wenn Merle in ihren bunten Pluderhosen eine Flasche Rotwein öffnet, spürt Karl
den freien Fall, der an seinem Innersten zieht. Einen Arm auf den Tisch
gestützt, die Hand in dichtes schwarz-blasses Haar vergraben, sitzt Karl unter
den Schatten der Deckenlampe und neben seinem Gefühl.
„Du bist
mein bester Freund.“ Sagt Merle, ihre Finger greifen nach Karls Arm. Karl sieht
nach unten. Fällt. Schlägt sich die Nase auf wirklichkeitsnahem Asphalt blutig.
„Ich will
hier nicht weg.“ Sagt Merle.
Als gäbe es
für ihn nichts weiter zu tun, beobachtet Karl die Maserung der Tischplatte.
„Ich bin
dein Ersatzmensch.“ Antwortet sein tonlos geöffneter Mund.
Karl fühlt,
wie die Zeit rückwärts die hölzerne Maserung entlang läuft, bis zu jenem
Apriltag vor sieben Jahren, an dem das Wetter keine Kapriolen schlug, er seine
Fingerspitzen sachte auf den Handlauf des Geländers legte, die Treppen zum
sechsten Stock hinaufstieg.
Nie hatte
er im sechsten Stock wohnen wollen. Dort, wo heute hinter der Wohnungstür die
für seine Gesellenprüfung angefertigte Kommode jedem der seltenen Besucher den
Weg durch einen zu schmalen Flur annährend versperrte und auf die er nur
Stunden zuvor den sorgfältig gelesenen Brief, selben Inhalts wie das zerknüllte
Papier auf Merles Küchentisch, abgelegt hatte. Die Angst vor Höhe griff jeden
Tag nach seinem Innersten. Er spürte es fallen; durch das Treppenhaus. Über den
Handlauf sah Karl niemals hinaus. Auch nicht hinunter. Nicht an jenem Tag im
April und auch eine keinem anderen Tag der folgenden Jahre.
Damals
versank Karl zwischen dem dritten und dem vierten Stock vollständig in dem
Gedanken, keinesfalls den Blick in die Tiefe zu richten. Die Anstrengung
überzog sein schmales Gesicht, auf dem selten ein nahezu spitzbübisches Lächeln
liegt, mit einem salzig-zarten Film.
Der Apriltag
liegt in fast vergessener Ferne. Das Gefühl, welches Karl zwischen dem dritten
und dem vierten Stock auf den Rücken sprang, sich fortan bis heute huckepack
durch sein Leben tragen ließ, sitzt neben ihm.
Es hält
seine klammen Finger. Seit dieser Zehntelsekunde, da Merle mit ihm
zusammenstieß. Karl war kaum in Versuchung geraten, ihm zu entfliehen. Nicht ein Mal
in den vergangenen sieben Jahren. Er ruhte seine niedergeschlagenen Lieder auf
Merles Gestalt aus, raufte das schwarz-blasse Haar, hoffte hinter einer Mauer
ungesagter Worte, sie möge ihn endlich erkennen.
Das Gefühl
wuchtet ihn aus dem unbequemen Küchenstuhl. Es hat genug.
„Wenn wir
in sechs Wochen ausziehen müssen, das Gebäude in Schutt und Asche liegt, tun
wir es auch. Ich kann nicht mehr dein Ersatzmensch sein.“ Sagt Karl und flieht.
Das Licht
im Treppenhaus surrt kalt über Linoleum und fleckige Wände. Karl sieht befreit
über den Handlauf des Geländers hinaus. Und hinunter.
Im
Erdgeschoss spannt sich fahle Haut unter Altersflecken, als Ursula die Geranien
auf der zweigeteilten Fensterbank gießt. Die Kunstfasern eines abgenutzten Teppichs
klingen nach der Erinnerung an Schuberts 8. Sinfonie, die Unvollendete; über
die Raufasertapete läuft der Duft verkochter Kürbissuppe.
Ursula
zählt Blütenblätter. Auf der Vitrine, hinter deren Türen sich das
Feiertagsgeschirr versteckt, stehen sorgsam aufgereiht gerahmte Gesichter, die
Ursula nicht mehr täglich erkennt. Fahrig stauben ihre Hände jeden Sonntag die
Rahmen und zuweilen Fremden ab; hält bemüht Ordnung in einer ungeordneten Welt.
Das Schloss
knackt leise, als Victor den Schlüssel dreht. Mit behutsamen Schritten wappnet
er sich, als er in die Leere des Flurs eintritt. Ursula steht regungslos vor
der zweigeteilten Fensterbank, zählt Blütenblätter.
Victor
nimmt die randlose Brille von der schmalen Nase, deren rechter Flügel eine
Narbe aus Kindertagen ziert.
Peinlich darauf
bedacht, die Geräuschlosigkeit nicht zu unterbrechen, folgt Victor einem
eingebrannten Ritual, steuert auf die kleine Küche zu, schaltet den Herd ab,
spürt dem Zorn nach, der sich in seinem Magen zu einem festen Knoten
verschlingt.
Vor den
ausgezählten Büttenblättern steht seine Mutter, hilflos zucken eingefallenen
Schultern, als ihre Augen zwischen dem eingerahmten Victor auf der Vitrine und
dem erwachsenen Mann im Rahmen der Wohnzimmertür hin und her springen.
Victor
erkennt die Ratlosigkeit, bevor sie sich über die abgenutzten Teppichfasern
breitet, nimmt die Antwort auf eine Frage und die panische Angst einer
gealterten Frau vorweg, die heute nichts mit seiner Mutter, einer schönen
Pianistin, gemein hat.
„Dein Sohn,
Mutter, ich bin dein Sohn.“ Versucht sich seine Stimme in vertrauensvoller
Ruhe. Der vernarbte Flügel seiner schmalen Nase zittert.
Ursula öffnet
in quälender Geschwindigkeit die Fäuste, streicht den flecken-durchsetzten
Wollrock glatt. Die Erinnerung schlägt scharfkantig Blitze in den
wolkenverhangenen Geist.
„Setzen wir
uns einen Moment.“ Sagt Victor, ein geöffneter Umschlag knistert zustimmend in
seinen Händen.
Ursula
bleibt unschlüssig bewegungslos.
„Wenn
Besuch kommt, serviert man Kaffee. Ist es schon zu spät für Kaffee, Junge?“
flüstert ihre Stimme, brüchig wie zu lang gelagertes Brennholz.
Victors Nackenhaare
verschränken sich ineinander.
„Setz dich
zu mir, Mutter.“ Sagt Victor, die Augen bestimmt auf den Brief gerichtet. Die klaren
Buchstaben läuten fett gedruckt das Ende ein. Die Rücksichtslosigkeit gewinnt
sachlich die Oberhand.
„Sie werden
das Haus abreißen, Mutter. Du wirst eine Weile bei uns wohnen, bis wir einen
Heimplatz gefunden haben.“ Sagt Victor, ohne den kurzsichtigen Blick von dem
Papier zu heben. Ursula schüttelt stumm den Kopf. Die fahlen Hände ziehen Linien
zwischen eingetrockneten Haferflecken auf dem Wollstoff über den Knien.
Schweigend sitzen
sie unberührt nebeneinander.
„Ich kann
hier nicht weg.“ Sagt Ursula.
Victors Haltung
duldet keinen Widerspruch.
„Die
Geranien nehme ich mit.“ Sagt Ursula und Victor ist sich nicht sicher, ob sie
mit den Kunstfasern des abgenutzten Teppichs spricht, aus ihrer Erinnerung
verloren hat, dass er dort sitzt.
In die
Erinnerung an Schuberts 8. Sinfonie, die Unvollendete, mischt sich der Duft
verkochter Kürbissuppe. Über den losen Rand seiner Brille streift Victors Blick
die unter Altersflecken gespannte fahle Haut, zwingt er sich zu einem müden
Nicken.
Die Tage
vergehen zwischen in Zeitung gewickeltem Porzellan im Wochentakt.
Hinter der
Fassade, so grau, dass sie fast farblos wirkt, verstauen sich Lebensgeschichten
und Erinnerungen als Füllmaterial in Bücherkisten.
Zwischen
Ampelphasen fegt der Verkehrslärm an den schallisolierten Fenstern vorbei,
deren Vorhänge längst abgehangen sind, die lichtlos bleiben.
Das Gebäude
löst sich beharrlich langsam auf. Den Gedanken an Protest hat es sich nicht zu
denken erlaubt.
Still steht
sein aufgegebener Schatten an der Straßenecke, treibt der Wind verdrängte
Blütenblätter ausgezählter Geranien über den grau-schwarzen Asphalt im falschen
Viertel.
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