Sonntag, 14. Februar 2016

Jakobs Ketten - Eins -

Ruths Schädel pocht als sie aus halb geöffneten Augen an die Zimmerdecke, deren Anstrich einst vielleicht weiß war, inzwischen aber ein rauchgelbes Kleid ist, durchzogen von Wasserflecken und Schimmelinseln, und dann an sich herunter sieht. Sie liegt auf einer alten Matratze, die zu weich ist für ihren von Übergewicht geschundenen Rücken unter einem dünnen Laken, einen pelzigen Geschmack auf der Zunge.
Mit der linken Hand reibt sie sich den Schlaf aus den Augen, um den Blick zu schärfen für eine Umgebung, von der sie sicher ist, dass sie sie nicht wahrnehmen will, als sich neben ihr etwas bewegt. Ein Fuß stößt mit ihrem Bein zusammen. Als der nicht geschnittene, ungepflegte Nagel des kleinen Zehs ihre Wade streift, unterdrückt sie einen angewiderten Schrei, saugt die verkaterte Luft zu tief in ihre von reichlich Zigaretten verbrauchten Lungenflügel und setzt sich auf.
Wie der Mann, auf dessen Matratze sie sitzt, heißt, hat Ruth entweder über das dritte Glas billigen Rotweins vergessen oder nie gewusst. Angestrengt versucht sich ihr Kopf daran zu erinnern, was sie in dieses Zimmer gebracht hat. Ruth ist 19 Jahre alt an diesem Morgen im Spätherbst 1988. Sie ist weit davon entfernt, als klassische oder überhaupt irgendeine Art von Schönheit zu gelten, wie ihre Mutter nicht müde wird, ihr zu versichern. Die grünen Augen stehen zu eng über der kleinen Nase zusammen, verdeckt von buschigen Brauen, die Ruth von ihrem Vater geerbt hat. In dem runden Gesicht verschwinden die schmalen Lippen fast ungesehen. Ruth ist nicht schön. Eine unglückliche Mischung verschiedener Gene mit Doppelkinn. Ihr kleiner Körper versinkt fast in sich selbst, so sehr liebt Ruth es zu essen, dass sich über die Jahre Polster um Polster um ihre Knochen winden. Manchmal scheint es Ruth ein Segen, wenn sie in ihrem Kinderzimmer sitzt, dessen Einrichtung sich nicht verändert hat, seit sie 5 war. Rosafarbene Wände, ein Himmelbett, ein Schloss hat ihr Vater ihr auf die Raufasertapete gemalt, einen Ort zum Träumen, bevor er ging und niemals zurückkehrte; ihre Mutter über dem Bett einen großen Nagel in die Wand schlug und dran das Bild der heiligen Maria hing.
Ruth zuckt erneut zusammen. Eine gewaltige Welle Abscheu spült über sie hinweg. Der Fremde neben ihr sabbert ungerührt über seinen Drei-Tage-Bart, der ihr gestern noch anziehend erschien, in das Kopfkissen, dessen orangener Bezug vor Monaten hätte gewaschen werden müssen.
Ruth setzt leise einen Fuß auf den Boden, wuchtet ihren kleinen, runden Körper so vorsichtig sie kann aus dem Bett, suchend tasten ihre Hände nach der hastig abgeworfenen Kleidung. Sie betet, der Fremde möge nicht aufwachen, ihr die Peinlichkeit ersparen, ihn bei Tageslicht ansehen zu müssen, angesehen zu werden. Was sie gedacht hat, in dieser Bar, halb versteckt hinter dem billigen Rotwein in einem langstieligen Glas, das weder zu Ruth noch zu dem Wein passen wollte, erinnert sie nicht mehr. Dunkel glaubt Ruth zu wissen, dass ihre Hand sachte den zu engen Rock ein Stück über das Knie geschoben hat, während der Fremde, der jetzt in sein heruntergekommenes Kissen sabbert, zu ihr herüber oder vielleicht auch nur vage in ihre Richtung gesehen hat. Ein wenig mag sie den Hals gestreckt, das blonde Haar aus der Stirn gestrichen haben. Ruth ist keine Verführung, nicht eine sinnliche Rubens-Figur. Das schiefe Lächeln, die wenigen Gesten, an denen Ruth spätestens scheitert, versucht sie die wulstigen Knie damenhaft übereinander zu bringen, hat sie sich aus Filmen abgeschaut. Der Fremde ist zu ihr herüber gewankt, hat ein halbes Bier auf dem Weg verschüttet, sich dann auf der Tischkante abgestützt und Ruth verschwommen angesehen. Der Fremde schnarcht, Ruth greift hastig nach ihren Schuhen. Der Fremde hat ein weiteres langstieliges Glas für Ruth bestellt, zusammen mit einem Schnaps und eine schwitzige Hand ungeschickt unterhalb ihres Rocksaumes platziert. Je mehr Wein Ruth trinkt, desto höher schiebt die schwitzige Hand ihren Rock das Bein hinauf. Ruth versucht zu lächeln, die Nacht taucht langsam in dunkelrote Alkoholschwaden, durchzogen von einem leichten Gefühl der Übelkeit. Ruth achtet nicht darauf, der Fremde sieht sie durch seine verschwommenen Augen an. Belanglos, voneinander gelangweilt, werfen sie sich mit schwerer Zunge Sätze zum Fraß vor, von denen sie wissen, dass sie sofort vergessen werden. Als der Fremde langsam aufsteht, sieht Ruths rundes Gesicht zu ihm hinauf, während ihre Hände an dem Bemühen scheitern, den engen, mit fremdem Schweiß getränkten Plastikrock herunter zu streichen. Ein Teil von ihr weiß, sie sollte den Fremden gehen lassen. Doch als der Fremde sie ohne Widerspruch zu dulden aus ihrem Stuhl zieht, lässt Ruth ihn bereitwillig gewähren. Sie hat diese Bar betreten, um zu fliehen. Vor einer Mutter, die bettlägerig auf ihre Hilfe angewiesen ist, deren Stimme heiser ist von geschrienen Demütigungen. Vor einem rosa Mädchenzimmer, das ebenso wenig zu ihrer Seele passen will wie das erzwungene Gebet jeden Abend. Ruth will sich an diesem Abend lebendig fühlen. Sie bekommt nicht viele Gelegenheiten, zu spüren, dass sie lebt und nicht nur die Erwartungen erfüllt, die an sie gestellt werden. Fremde sehen sich nicht nach ihr um. Ihre Schüchternheit versperrt ihr den Weg zu jeglichen Gesprächen. Der Mann mit dem Drei-Tage-Bart und dem verschwommenen Blick stört sich nicht daran, dass Ruth weder sich selbst schön findet, noch schön gefunden wird. Selbstverständlich gehen sie Arm in Arm und doch unrhythmisch neben einander her. Die kleine Gasse ist schlecht beleuchtet. Ruth denkt kurz an die Warnungen ihrer Mutter, wenig liebevoll, immer mit dem Zusatz vorgetragen, sie seien unnötig, niemals würde Ruth in eine solche Lage geraten. Auch deshalb ist sie an diesem Abend aus dem mütterlichen Haus geflohen. Um zu beweisen, dass diese Warnungen sehr wohl berechtigt ausgesprochen und einzig der schmerzhafte Spott unnötig war. Der Fremde zieht Ruth eine Treppe hinauf und ihr kurz darauf den Rock herunter. Ruth schließt ihre Augen, atmet an den Bierschwaden vorbei, die der Fremde ausstößt.
Sie windet sich unter unbeholfenen Berührungen. Der Fremde begehrt sie nicht. Ruth ist keine Frau, die ein Mann begehrt. Ruth ist eine Frau, die benutzt wird. Wenn sie ihren Zweck erfüllt hat, darf sie gehen. Niemals huldvoll entlassen, stattdessen vom Hof gejagt. Ruth weiß das. Ihre Mutter behauptet, Bedürfnisse sind eine Schwäche des Charakters. Ruth müsse stark sein, sich besinnen. Heute Nacht will Ruth sich nicht besinnen. Obwohl sie weiß, dass am Morgen schamvolle Reue auf ihr liegen wird, wie jetzt der schnaubende Fremde. Das Gewicht wird das gleiche sein. Den Fremden wird sie abwaschen; das Gewicht der Gefühle nicht.
Ruth verlässt das Zimmer ohne sich noch einmal nach dem Fremden unter dem Laken umzusehen. Fast bedächtig schließt sie die Tür, schlüpft im Hausflur in ihre Schuhe und hastet das Treppenhaus hinunter, dem das Tageslicht ebenso wenig schmeichelt wie ihr. Der Versuch das Unbehagen, das mit jedem Schritt zunimmt, mit einem zu heißen Kaffee zu verbrennen, misslingt. Ruth weiß, was sie Zuhause erwartet. Ihre Mutter wird zu brüllen beginnen, sobald Ruth die Haustür aufgeschlossen hat. Nach dem Frühstück wird sie schreien, nicht ohne Ruth zu beschimpfen, weil sie die ganze Nacht fortgeblieben ist. Eine Erklärung wird die alte Frau fordern, aber sie nicht anhören. Während Ruth ihr Kissen aufschüttelt wird sie den fleischigen Arm ausstrecken, ihre scharfkantigen Fingernägel werden sich in Ruths Haut bohren. Sie wird die Zähne aufeinander beißen und nicht wimmern, die Nägel werden sich immer tiefer in das Gewebe graben, während die alte Frau Worte zu Ruths verbissenem Gesicht hinauf spucken wird. Sie sei selbst schuld daran, wird sie sagen. Dankbar solle sie sein, dass es der alten Frau nicht möglich ist, aufzustehen. Ruth erinnert sich gut, als ihre Mutter noch die Kraft hatte, das Bett zu verlassen. Der Rohrstock steht inzwischen unerreichbar, mahnend gleich neben der Zimmertür. Eine verruchte, abscheuliche Gestalt wird sie Ruth nennen, nicht besser als es Huren sind. Sie wird Ruth zwingen zu beten, laut. Und sie wird lachen, dieses grauenhaft kehlige Lachen, bis ihr die die Luft ausgeht.
Bleischwer schleppt Ruth ihre Glieder dem Haus und ihrem tatsächlichen Leben entgegen. Die Bemühungen, sich für den Rest dieses und den Rest aller Tage zu wappnen, werden scheitern. Ruth weiß das. Es gibt für sie kein Entkommen, nicht so lange die alte Frau da in ihrem Bett liegt, ihre scharfkantigen Fingernägel, die Ruth mit so wenig Liebe wie möglich einmal wöchentlich schneidet, in die Haut ihres Armes gräbt. Oft träumt Ruth, sie nähme das Kissen in ihre Hände. Nicht um es aufzuschütteln, sondern um es der alten Frau auf das speckig glänzende Gesicht zu drücken. Das kehlige Lachen darunter zu ersticken. Ruth würde das Kissen mit all ihrer Kraft auf dem verhassten Gesicht halten, bis der wunde Körper auf der durchgelegenen Matratze still da läge. Sie würde den Erinnerung an die einst liebevolle Hand, die über ihren Kinderkopf strich, verbieten sich mit den letzten Zuckungen der Glieder einen Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen.
Ruth stolpert über einen Zweig, der auf dem Gehweg liegt. Kurz bleibt sie stehen, blickt hinunter auf den Zweig, der aus dem Nichts gekommen sein muss. An der Straße steht nicht ein Baum in Sichtweite. Aus der Entfernung könnte man das Stück Holz für eine sich krümmende Schlange halten. Ruth hebt den Zweig auf. Dreht ihn in rauen Händen, bis er in zwei ungleiche Teile zerbirst. Als hätte das Knirschen des Holzes sie aufgeschreckt, setzt Ruth einen Fuß vor den anderen. Sie bewegt sich mit schmerzhafter Langsamkeit, um das unvermeidliche hinaus zu zögern.
Der hasserfüllte Flur nimmt ihr die Luft. Vertraute Geräusche tosen in ihren Ohren, legen jeden Gedanken still. Ruth ist taub. Ihre Mutter richtet sich ächzend einige Zentimeter auf, präzise Blicke zerschneiden Ruths Gesicht. Sie schüttelt das Kissen auf. Die alte Frau vergräbt scharfkantige Fingernägel in Ruths Unterarm.
Ruth steht neben sich am Bett ihrer Mutter, während ihre Stimme versagt. Sie solle deutlich sprechen, weisen gebleckte Zähne sie an. Obwohl sie ohnehin nicht auf Vergebung hoffen könne, belehrt sie das speckig glänzende Gesicht. Ruths Mutter ist nicht so nachsichtig wie der Heiland. Ruths Mutter stirbt nicht. Besonders nicht für die Sünden ihrer Tochter.
Das Licht fällt aschgrau auf die Bettdecke unter der sich die längst unbeweglichen Beine der alten Frau abzeichnen. Auf dem Nachttisch steht eine Vase mit künstlichen Blumen. Staubdeckte Blüten aus einer Zeit, die längst vergessen ist. Ruths Blick klebt an der Vase, die stiller Ausdruck ihres Protests ist. Reinigen soll sie die Blüten. In ihrer Verweigerung dieser einen Geste liegt ihre gesamte Abscheu vor dem Raum und der darin liegenden Frau. Ein Zwang, dem Ruth sich nicht unterwirft. Die Mutter hat in diesem Punkt aufgegeben. Der Staub ist ihr ein Qual. Ruth weiß das.
Als sie sich aus den Fängen der Mutter löst, will ein seltenes Lächeln um ihre Mundwinkel zucken. Ruth wundert sich über den Impuls und gibt ihm erst in der rosafarbenen Beschaulichkeit ihres Zimmers nach. Die Mutter sieht sie nicht gerne lächeln. Ruth hat das Recht auf fröhliche Unbeschwertheit verwirkt.
Die Räume liegen drohender Stille in der fahlen Nachmittagssonne, während draußen Kinderlachen tönt. Ruth steht am Fenster und sieht auf die fremde Welt vor dem Haus. Das Freibad auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat geschlossen. In dem Becken sammeln sich Blätter, die der Wind von den Bäumen gezerrt hat. Verloren in der Betrachtung der Blätter durchzuckt sie eine Erinnerung. Die fleckige Zimmerdecke des Fremden. Ruths kleiner Körper schüttelt sich, doch das Bild bleibt haften. Sie schließt die Augen. Die Flecken der Zimmerdecke nehmen die Form von Blättern an und tanzen. Hämisch hat es den Anschein. Ruth sinkt auf das Kinderbett und wartet. Auf die Gnade eines traumlosen Schlafes.
In eintöniger Selbstverständlichkeit vergehen die Tage, werden zu Wochen und Monaten. Ruth erlaubt sich keine weiteren Ausflüge. Sie schüttelt die Kissen ihrer Mutter auf, während die alte Frau sehnsüchtig auf einen Fehltritt wartet.
Der Plastikrock will Ruth schon seit geraumer Zeit nicht mehr passen. Sie versucht sich hin und wieder heimlich hinein zu zwängen. Ruths Körper schwillt von Tag zu Tag an; sie verhüllt ihn so gut es geht. Der Gedanke an die Ursache für die Veränderung hat in ihrem Verstand keinen Platz. Wann immer er sich Gehör verschaffen will, stopft Ruth ihn in die Tiefe zurück, begräbt ihn unter weiterer Kleidung und Ausflüchten. Der Mutter ist aufgefallen, dass Ruth sich verändert hat. Noch unförmiger sei sie geworden. Aber es spiele keine Rolle geifert ihr das speckig glänzende Gesicht entgegen. Ruth sei innen wie außen nicht liebenswert. Wenn die Mutter sie nicht lieben könne, wie wolle sie erwarten, dass ein Fremder dazu in der Lage sei. Das kehlige Lachen klingt durch den hasserfüllten Flur, als vor dem Fenster das Kinderlachen im ersten Schnee stirbt.
Der Morgen verkleidet sich als Nacht, die Dunkelheit will der schwachen Wintersonne nicht weichen. Ruth erhebt sich mühsam und fühlt einen Tritt in ihrem Inneren. Ein Krampf, sie hat am Vorabend zu spät gegessen. Es ist nichts weiter als ein Krampf. Leise wickelt sie sich in die Kleidung, die sie sorgsam auf dem Schreibtischstuhl zurecht gelegt hat. Sie nimmt ihre Tasche und verlässt das Haus. Auf kalten Füßen geht sie, darauf bedacht nicht zu fallen, zur Bushaltestelle, wie sie es nunmehr dreimal wöchentlich tut. Der Bus bringt sie bis zu ihrer neuen Arbeitsstelle, hält gleich vor der Tür. Das Bürogebäude sieht wie üblich mit seiner abweisenden Glasfassade auf sie herunter, Ruth greift ihre Tasche fester.
Sie leert Papierkörbe und wischt über Schreibtische, auf denen Bilder von glücklichen, reichen Familien stehen. Kleine blondgelockte Mädchen, die Vaters ganzer Stolz sind und Bengel, die ihre Zahnlücken an der Hand der freudestrahlenden Mutter dem Fotografen präsentieren. Neben perfekt angeordneten Schreibutensilien stehen diese eingerahmten Bilder von perfekten Familien, in denen niemand Kissen aufschütteln oder fremde Schreibtische wischen muss. In Ruths Innerem tritt sie etwas. Das ist nur der Wunsch, diese Bilder in die Papierkörbe zu fegen, so dass die passend ausgesuchten Rahmen zerspringen; das Glas das Fotopapier in Fetzen reißt. Es ist nichts. Weil es nichts sein darf.
Trotzig wischt Ruth über das letzte Sideboard des Morgens, still steht sie da. Besieht sich ihr Werk, als sie einen neuerlichen Tritt spürt. Sie legt die linke Hand bestimmend auf ihren geschwollenen Leib. Unwillkürlich übt ihre Hand Druck aus. Es ist nichts.
Ruth sitzt auf einer Parkbank. Nur ein paar Gehminuten entfernt liegt die Arztpraxis. Im Wartezimmer hat Ruth ihre Zeit veratmet. Zwischen strahlenden Frauen hat sie gesessen. Ruth hat irgendwo gelesen, dass Schwangere von Innen leuchten. Ruth leuchtet nicht. Ruths Inneres ist so schwarz wie ihre Kleidung. Schwarz geht unter, ist unauffällig. Ruth will nicht auffallen. In einer Ecke des Wartezimmers steht eine Kiste mit Spielsachen. Fröhliche Plastiklaster; Holzklötze, die zu Türmen werden wollen. An diesem Dezembernachmittag liegen die Spielsachen unberührt in der Kiste.
Eine schlanke Frau ruft ihren Namen. Ruth nimmt ihren Blick von den Holzklötzen, erhebt den schwerfälligen Körper, schiebt die rauen Hände tiefer in die Taschen ihres Mantels. Die schlanke Frau winkt Ruth ihr zu folgen; führt sie in einen Raum, an dessen Wänden lächelnde Kindergesichter hängen. Sie solle Platz nehmen, sich noch einen Augenblick gedulden. Ruths Kehle schnürt sich wie von selbst zusammen. Ihr Mund will Worte formen und doch nicht aussprechen. Die schlanke Frau steht fragend in der Tür. Ob sie sich nicht wohl fühle. Vielleicht ein Glas Wasser. Ruths Kopf nickt. Die schlanke Frau schließt die Tür. Sie sei gleich zurück. Ruth solle Platz nehmen.
Die Armlehnen des Stuhls scheinen Ruth zu drohen. Die Angst kriecht ihre wassergeschwollenen Waden hinauf, weicht ihr Rückgrat auf. Ruth stürzt. Hinaus aus dem Zimmer, hinaus aus der Arztpraxis. Hinein in die kalte, klare Luft. Durch den winzigen Park. Bis zu der Bank. Dem leichten Überzug aus Pulverschnee schenkt sie keine Beachtung. Sie setzt sich. Die Bank hat keine Armlehnen, droht ihr nicht. Ruth starrt auf das schmutzige Weiß zu ihren Füßen. Von Streusalz durchsetzter Schnee. Sie hat den Winter immer gemocht. Diesen Winter mag sie nicht. Sie fürchtet sich vor seinem Ende.
Ruth nimmt eine laute Stimme wahr. Jemand ruft ihren Namen. Die schlanke Frau ist ihr gefolgt. Ruths Blicke suchen nach einem geeigneten Versteck. Doch da ist nichts, was sie retten könnte. Die schlanke Frau bewegt sich anmutig auf sie zu. Streckt eine feingliedrige Hand aus, deren Nägel blutrot schimmern. Die Hand greift sachte unter Ruths Arm. Zieht sie vorsichtig von der Bank, als wäre Ruth zerbrechlich. Hysterisches Lachen schüttelt Ruths Körper, unerwartet plötzlich. Die schlanke Frau blickt besorgt. Ruth streift die Hand und ihren sachten Griff ab. Sie will nicht gehalten werden. Es gehe ihr gut, versucht sie zwischen dem Ringen nach Luft und Tränen zu versichern. Ruth will, dass die schlanke Frau geht. Der Termin sei ein Irrtum gewesen. Es sei nichts. Sie brauche keinen Arzt, keine Beratung. Die schlanke Frau glaubt ihr nicht. Ruth sieht das. Die schlanke Frau kann sie nicht zwingen. Ruth weiß das. Sie tritt einen Schritt zurück, wischt sich mit dem Ärmel ihres Mantels über das Gesicht. Um ihre Mitte spannt der Mantel. Die schlanke Frau hebt die Stimme. Ruth winkt ab. Es sei nichts, wiederholt sie. Ruth ist erstaunt, wie fest ihre Stimme klingt. Als wären die Worte aus Stein. Sie überzeugt sich selbst. Die schlanke Frau zuckt mit den Schultern. Ruth hat den Kampf gewonnen; die schlanke Frau zieht sich zurück.
Ruth sieht auf Parkbank hinunter. Im Pulverschnee hat sie einen Abdruck hinterlassen. Mit rauen Händen wischt Ruth den Schnee von der Parkbank. Der Abdruck verschwindet langsam. Ein maroder Splitter jagt Ruth in den Zeigefinger. Ruth spürt das nicht. Ihrer Hände sind kalt. Ruth spürt auch die Kälte nicht. Etwas in ihrem Inneren versetzt ihr einen Tritt. Ruth lässt sich in das schmutzige Weiß vor der Parkbank fallen. Es ist nichts. Ruth fühlt ein Brennen, das sich über ihr ausbreitet. Es ist nichts. Und dieses Nichts muss damit aufhören, sie zu treten.
Wie lange sie im schmutzigen Weiß gelegen hat, weiß Ruth nicht. Irgendwann hat sich der Nachmittag leise über den einsamen Park gesenkt. Ruth hat ihren Arm unter den Kopf geschoben und auf das gleichmäßige Ticken ihrer Armbanduhr gehört. Sie sollte aufstehen. Ruth weiß das. Ihr Körper versagt ihr den Dienst, will sich nicht bewegen. Der Splitter in ihrem Finger pocht im Gleichklang mit der Uhr an ihrem Handgelenk. Sie war ein Geschenk. Ruth erinnert sich an den Tag im Einkaufszentrum. Es war ein Samstag. Ihr Vater hatte sie wecken wollen. Ruth saß bereits angezogen auf ihrem Bett, als er behutsam die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Ruth hatte sich selbst die Schuhe zugebunden. Minutenlang hatte sie die Schnürsenkel übereinander gelegt, bis ihre unbeholfenen Kinderfinger eine Schleife zustande brachten. Ihr Vater hatte es sofort bemerkt, als er das Zimmer betrat. Gelobt hatte er sie. Seine kluge Prinzessin hatte er sie genannt. Gemeinsam waren sie leise die Treppe hinunter geschlichen. Die Mutter schlief bei halbgeöffneter Tür. Sie hatten gefrühstückt. Der Vater hatte Spiegeleier gebraten. Der Duft von Filterkaffee hatte die Küche ausgefüllt, war in jede Pore gekrochen. Ruth liebte den Geruch. Damals. Heute verursacht er ihr Übelkeit. Nach dem Frühstück hatten sie gemeinsam das Geschirr abgewaschen. Die Mutter sollte an einem Samstag keine zusätzliche Mühe mit der Hausarbeit haben. Der Vater hatte liebevoll darauf bestanden, dass Ruth ihren Teller selbst abspülte. Er hatte ihr einen Stuhl an die Spüle heran gerückt, sie darauf gehoben. Gelobt hatte er sie. Seine fleißige Prinzessin hatte er sie genannt. Ruths Kinderhände hatten gezittert. Sie hatte den Teller fast in die Spüle fallen lassen. Sie hatten ihre Jacken von dem Garderobenständer im Flur genommen und waren in den alten Opel gestiegen. Der Vater hatte sie vorne sitzen und den Radiosender auswählen lassen. Sie solle es nicht der Mutter erzählen, hatte er ihr eingeschärft. Ruth wäre noch zu klein, als dass es erlaubt gewesen wäre. Sie hätte auf der Rückbank sitzen müssen. Die Mutter würde ärgerlich werden und sie vielleicht nie wieder alleine mit dem Vater in dem alten Opel fahren lassen. Es sei ein Geheimnis, hatte der Vater eindringlich widerholt. Ruth hatte genickt und war sich erwachsen vorgekommen. Ruth hatte viele Geheimnisse mit dem Vater. Die Mutter nicht alles wissen, was zwischen einem Vater und seiner Tochter geschehe, gesprochen werde. Ruth war aufgeregt. Sie war noch nie im Einkaufszentrum gewesen. Die Fahrt dauerte nicht lang. Der Radiomoderator kündigte gerade die Nachrichten an, als Ruths Vater den alten Opel auf den Parkplatz lenkte. Gemächlich stellte er den Motor ab, zog die Handbremse an. Ruths linker Schnürsenkel hatte sich gelöst. Ihre Kinderbeine baumelten von dem abgenutzten Sitzpolster herunter. Der Vater band den Schuh neu, strich sachte über die schmale Wade. Sie überquerten Hand in Hand den Parkplatz, auf dem der alte Opel einsam in der Morgensonne glänzte. Der Vater achtete sehr darauf, den Wagen zu pflegen. Jeden Sonntag stand er vor dem Haus, bewaffnet mit einem weichen Lappen und einem Eimer lauwarmen Wassers. Stunde um Stunde rieb und wienerte er den Wagen. Nur weil er alt sei, meinte der Vater, müsse er nicht auch so aussehen. Auf die abgenutzten Polster hatte er Schonbezüge aufgezogen. Die Mutter mochte sie nicht. Der Vater entfernte sie. Und die Mutter machte jeden Sonntag dieselbe hämische Bemerkung. Warum er immerzu an der alten Blechkiste herumwische, wo doch mit nur einem Blick in das Wageninnere deutlich werde, dass das Auto seine besten Tage lang hinter sich habe. Den Schein wolle er wahren, zu mehr sei er nicht in der Lage. Dann ging sie zurück ins Haus und ließ ihren Mann mit seiner Scham darüber, sich keinen neuen Wagen leisten zu können allein.
Das Einkaufszentrum schien Ruth unendlich weit. Sie griff die Hand des Vaters fester, aus Angst ihn zu verlieren. Ruths Augen weiteten sich mit jedem Schritt, den sie tiefer in die bunte Einkaufswelt machten. Im Erdgeschoss gab es einen Bäcker zwischen einer Drogerie und einem Supermarkt. Aus der Parfümerie gegenüber drang eine unerbittlich süße Wolke aus verschiedenen Düften, die sich mit der Kaffeemaschine des Bäckers um die Vorherrschaft des intensivsten Geruchs stritt. Der Vater kaufte Ruth ein Milchbrötchen. Ruth traute sich kaum im Gehen davon abzubeißen. Zwischen den bunten Schaufenstern der Bekleidungsgeschäfte, entdeckte Ruth einen zurückhaltenden Buchladen. Gerne wäre sie hineingegangen. Ruth konnte nicht lesen, aber sie sah die Bücher gerne an, steckte ihre Kindernase zwischen die Seiten, um den Papiergeruch einzusaugen. Ihre Mutter hatte sie einmal dabei erwischt, wie sie ihre Nase in ein altes Märchenbuch versenkt hatte. Sie hatte Ruth das Buch aus den Kinderhänden gerissen. Was sie damit wolle, wo sie doch nicht lesen könne. Die Mutter hatte verächtlich den Kopf geschüttelt und das Märchenbuch hatte am nächsten Tag nicht mehr an der gewohnten Stelle im Regal gestanden. Es war einfach verschwunden. Märchen seien ohnehin nichts für Kinder, hatte die Mutter gefunden. Wenn Ruth lesen könne, werde sie ihr schon das passende Buch geben. Manchmal hatte ihr die Mutter aus der Bibel vorgelesen. Der Vater hatte dann in der Tür gestanden. Sein Gesicht hatte gesagt, die Mutter möge damit aufhören. Das Kind sei zu klein, um zu verstehen. Doch die Worte hatten ihren Weg nicht in den Raum gefunden.
Der Vater zog sie weiter, der zurückhaltende Buchladen verschwand hinter dem bunten Tand einer Geschenkeboutique und einem Geschäft für Tabakwaren. Sie fuhren die Rolltreppe hinauf. Der Vater warnte Ruth sie möge am Ende einen großen Schritt machen. Fasziniert starrte sie auf die flach verschwindenden Treppen. Hopp, hatte der Vater gesagt und Ruths Kinderbeine hatten sich in dem großen Schritt beinahe verheddert. Der Vater hatte sie aufgefangen. Gleich hinter der Rolltreppe öffnete ein Schreibwarenladen seine gläsernen Türen, auf denen die Spuren der Kunden vom Vortag noch zu sehen waren. Abrücke fettiger Finger hatten ein Muster auf das Glas gemalt. Der Verkaufskraft schien das nicht aufzufallen. Ruth biss in ihr Milchbrötchen.
Sie spazierten durch den ersten Stock des Einkaufzentrums, vorbei an einer geschlossenen Eisdiele, einem Laden, in dem allerlei technisches Gerät angeboten wurde und einem Haushaltswarengeschäft. Im Schaufenster stand prominent ausgeleuchtet ein großer Messerblock. Für einen Wimpernschlag verkrampfte sich die väterliche Hand, Ruth zuckte zusammen. Der Griff lockerte sich zu schnell, als das Ruth ihren Vater hätte fragen können, was er beim Anblick der Messer dachte. Ruth war sieben Jahre alt an diesem Samstagmorgen im Einkaufszentrum. Sie war ein empfindsames Kind; die häuslichen Schwingungen hatten sich längst in ihre Seele gefressen.
Vor der Auslage eines Schmuckhändlers blieben sie stehen. Ruths Blick irrte überfordert zwischen den glänzenden Ringen, Armreifen und Ketten umher, bis er schließlich beruhigt an einer unscheinbaren Uhr hängen blieb. Ihr Band war aus blauem Stoff, bedruckt mit kleinen weißen Blüten, in den Zeigern fand sich das blau des Uhrenbandes wieder und in der Mitte des Ziffernblattes tanzten weitere Blüten. Die Uhr gefalle ihr wohl, hatte der Vater festgestellt. Ruth hatte mit trockenem Mund genickt, sich die Hoffnung auf ein Geschenk nicht erlaubt. Doch der Vater war mit ihr in den Laden gegangen. Ganz selbstverständlich, als sei er der reichste Mann der Stadt, so hatte Ruth gefunden, hatte er dem Verkäufer erklärt, er wolle die Uhr im Schaufenster sehen. Sie gefalle seiner Tochter, hatte er angefügt. Der Verkäufer hatte skeptisch auf das Milchbrötchen in Ruths Kinderhand geblickt. Ganz so als könne er sich nicht entscheiden, ob die Ungehörigkeit, den feinen Laden mit einem Milchbrötchen zu betreten Grund genug sei, die Bedienung zu verweigern. Ruth hatte das Milchbrötchen schnell in der Tasche ihres Mantels verschwinden lassen. Der Verkäufer hatte hörbar geseufzt und die Uhr aus dem Schaufenster geholt. Sorgsam hatte der Vater Ruth um das Kinderhandgelenk gebunden. Ruth hatte gestrahlt.
Auf dem Rückweg hatten sie den ursprünglichen Radiosender wieder eingestellt. Ruth hatte immerzu auf ihre neue Uhr gesehen. Zeit sei etwas Kostbares hatte der Vater ihr zugeflüstert, als sei er besorgt, der Ausspruch könne in die falschen Ohren gelangen. Ruth hatte genickt, obwohl sie nicht sicher gewesen war, was der Vater damit gemeint hatte. Als sie zuhause angekommen waren, stand die Tür weit offen. Die Mutter kehrte den Schmutz der Woche aus dem Flur nach draußen. Der Vater hatte Ruth einen Kuss auf die Stirn gegeben. Sie solle der Mutter zunächst nichts von der Uhr erzählen, hatte er gesagt. Sie solle schon aussteigen und der Mutter bei der Hausarbeit zur Hand gehen. Er führe noch einkaufen, sei aber bald zurück, solle sie der Mutter ausrichten. Ruth war folgsam ausgestiegen, darum bemüht die Freude in ihrem kleinen Kinderherzen genauso zu verstecken, wie die Uhr an ihrem Handgelenk. Der Vater hatte den alten Opel gewendet und war die Straße hinunter gebraust. Zeit sei kostbar, hatte er im Davonfahren gemurmelt. Und sich nie wieder umgesehen.
Das schmutzige Weiß ist inzwischen in Ruths Mantel gekrochen. Sie sollte aufstehen. Ruth weiß das. Die Uhr an ihrem Handgelenk hat inmitten der Erinnerung aufgehört zu ticken. Als Ruth ihren steif gewordenen Körper zwingt sich aufzurichten, wünscht sie sich einmal mehr, sie wäre neben dem Vater sitzend in dem alten Opel die Straße hinunter gebraust.

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