Trotz der klaren Luft, die Herbstsonne und Winterwinde vor sich
hertreibt, schmeckt der Weg nach Verwesung. Das Tauwasser spiegelt
sich trüb selbst. Eine giftige Brühe, die sehnsüchtig auf den
nächsten Frost wartet, der so sicher ausbleiben wird wie das Amen in
der Kirche, auf deren Holzbänken klimawandelnde Sünder sitzen.
Mitten auf der einzigen Straße, die diesen Namen verdient, blutet
ein toter Hase auf den feuchten Asphalt.
Jakob steht seit Stunden am Fenster, starrt durch sein schmutziges
Spiegelbild auf die rostroten Flecken da auf dem Asphalt. Den Hasen
sieht er schon lange nicht mehr. Die nackten Füße sind taub und
durch die häusliche Stille tönen laut seine Gedanken, unterbrochen
von dem Klirren der Eisenglieder um seinen linken Knöchel. Unter dem
Eisenring hat sich längst Schorf gebildet über der Wunde, die vom
zu heftigen Zerren herrührt. Jakobs Erinnerung versagt ihm den
Dienst. Seit wann das kalte Eisen um seinen linken Fuß liegt, vermag
er nicht zu sagen. Jakob darf nicht am Fenster stehen. Eines der
vielen Gebote, denen er Folge zu leisten hat, besagt in strenger
Deutlichkeit, niemand darf ihn sehen. Auf der Straße tanzen die
rostroten Flecken. Jakob versucht den Blick zu schärfen, kneift das
rechte Auge zusammen, die verdreckte Fensterscheibe ist ihm im Weg.
Wäre seine Kette nur um ein oder zwei Glieder länger, er könnte
sie erreichen, einwerfen wohlmöglich. Und dann? Durch die Scherben
würde er steigen, nach draußen. Ob er sich die nackten Füße an
dem gebrochenen Glas aufschnitte, würde er nicht merken. Rostrote
Flecken würde er zurück lassen auf dem feuchten Asphalt, gleich
neben dem toten Hasen.
Aber die Glieder der Kette reichen nicht weit genug. Die Freiheit ist
mehr als nur eine Armeslänge entfernt. Jakob weiß das, obwohl er
sich den Gedanken an Freiheit nur noch selten erlaubt. Seine
Erinnerung versagt ihm den Dienst. Wann er das letzte Mal frei war,
vermag er nicht zu sagen. Die häusliche Stille scheint ihn seit
einer Ewigkeit zu begleiten, so wie der gekreuzigte Heiland an allen
vier Wänden des Raumes seit einer ununterbrochenen Ewigkeit hängt.
Manchmal fühlt Jakob die Blicke des holzgeschnitzten Gesichts. Sie
folgen ihm von Wand zu Wand, mahnen ihn, sich nicht sehen zu lassen.
Während der Asphalt langsam in der kalten Sonne trocknet, rauscht
ein Wagen über den toten Hasen hinweg. Jakob zuckt zusammen, die
Kettenglieder spannen sich. Ein stechender Schmerz fährt ihm durch
den Knöchel bis unter die Kopfhaut, als die Haustür zufällt.
Schnell rafft Jakob die Kette, so leise wie sich Eisenketten eben
raffen lassen, schleicht in gebückter Haltung in die Ecke des
Raumes, die am weitesten von der schmutzigen Scheibe entfernt ist.
Jakob betet, sie möge seinen Schatten nicht gesehen, die Bewegungen
nicht gehört haben, als er auf der modrigen Matratze die Arme um
spitze Knie schlingt.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss der Haustür. Sie schließt
immer ab. Zweieinhalb Umdrehungen lässt sie den Schlüssel machen,
um sicherzugehen. Der Junge kann nicht aus seinem Zimmer fliehen. Sie
weiß das. Dennoch will sie sichergehen. Auch Eisen kann brechen. Und
sie sieht den Augen des Jungen, dass er noch manches Mal an das
Fliehen denkt. Sie hat sich vorgenommen, ihn für diese Gedanken zu
bestrafen. Er muss lernen zu gehorchen. Kinder müssen gehorchen. Sie
hat es gemusst, der Junge muss es lernen. Mit festen Schritten geht
sie durch den Flur. Auf der anderen Seite der Wand zuckt Jakob
zusammen. Sie wirft ihren Mantel über einen alten Stuhl, der seit
sie das Haus bezogen hat, im Weg steht. Sie kann sich nicht davon
trennen. Jakob hört wie der Mantel sich unsanft über die Lehne
legt. Die Metallknöpfe hinterlassen Kerben in dem weichen Holz.
Jakob weiß, sie wird in die Küche gehen, bevor sich die Tür zu
seiner Kammer öffnet. Jakob beginnt zu zählen. Es ist ein Ritual.
Die Tür eines Küchenschranks klappt; eins, zwei, drei. Das Glas
schlägt hart auf der Anrichte auf; vier, fünf, sechs. Der
Kühlschrank summt; sieben, acht, neun. Sie schenkt sich ein; zehn,
elf, zwölf. Jakobs Handflächen sind feucht, seine Kehle trocken.
Wieder feste Schritte im Flur; dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Der
Schlüssel fährt ungeduldig in das Schloss der Tür. Ein dünner
Lichtstrahl, der nicht als Hoffnungsschimmer taugen will, fällt in
das dunkle Zimmer. Nur für einen kurzen Moment, bevor sich die Tür
hinter ihr schließt. Sie mustert Jakob in seiner Haltung. Er weiß,
er sollte die Arme von den spitzen Knien lösen. Er sollte sich
aufrichten, sie begrüßen. Er weiß, tut er es nicht, wird sie ihn
bestrafen, und ist doch unfähig eine einzige Bewegung auszuführen.
Sein Körper ist starr, will ihm nicht gehorchen. Sechzehn, siebzehn,
achtzehn. Der Stock kracht gegen seine Rippen. Jakob weiß, es werden
weitere Schläge folgen, so lange bis er sich mühsam aufrappelt. Es
ist ein Ritual, festgeschrieben seit Anbeginn seines Lebens in diesem
Haus. Sie betritt sein Zimmer nie ohne den Stock. Jakob spürt den
Schmerz der Schläge an manchen Tagen kaum noch. An anderen Tagen
treffen sie ihn wuchtig. Sie spricht nicht ein Wort. Aus gefrorenen
Augen sieht sie auf das ungehorsame Elend zu ihren Füßen hinab.
Würde der Junge nur ein einziges Mal tun, was sie von ihm erwartet.
Sie müsste ihn nicht schlagen, denn sie tut es wahrlich nicht gern.
Der Junge versteht das nicht. Blickt sie an, mit diesen aufmüpfigen
Augen, die nach Freiheit schreien. Heute hat er nicht einmal den
Respekt, unter ihren Schlägen zusammen zu zucken. Sie holt erneut
aus. Ihre Hand greift den Stock fester. Würde der Junge doch endlich
aufstehen, sich rühren. Sie könnte aufhören. Jakob versucht nicht,
sich zu schützen. Sie wird irgendwann damit aufhören. Das tut sie
immer, irgendwann. Dann geht sie. Stunden später wird sie ihm etwas
zu essen und die Bibel bringen. Jakob darf die Bibel nicht behalten.
Sie verlangt, dass er darin liest. Genau eine Stunde, während des
Essens. Sie wird ihn mit diesen gefrorenen Augen ansehen. Es ist ein
Ritual. Wie das Zählen.
Als Jakob sich erhebt, langsam und gebückt, trifft ihn ein letzter
Schlag auf den Rücken. Seine Kiefermuskeln verspannen sich, damit
der Schrei nicht in die muffige Zimmerluft entweicht. Jakob weiß,
dass er nicht schreien darf. Sie wird wütend, wenn er schreit.
Endlich. Sie stellt den Stock an die Wand. Sie ist kleiner als Jakob.
Hätte er den Mut, er könnte sie überwältigen. Die Glieder seiner
Kette reichen. Jakob ist nicht mutig.
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