Montag, 4. Juli 2016

Herr Habel schreit

Als am 14. März 1969 Josef Bachmann zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt  wird, ist Frank Habel gerade ein paar Stunden alt und brüllt ungehindert die Säuglingsstation des St. Anna Hospitals in Herne nieder, während seine Mutter mit unerkannten, wie schweren postnatalen Depressionen kämpft.
Frank wächst in dem Bewusstsein auf, dass Schreien ihm nichts weiter einbringt als eine "Auszeit" im Keller oder einen hochroten Kopf oder beides. Also lässt Frank das Schreien und sich empören schon sehr früh. 
Als er im Alter von elf oder zwölf Jahren ist, zuckt er nicht einmal mehr resigniert mit den Schultern, wenn sein Großvater, den jeder, selbst der Postbote, "Oppa" nennt sagt: "Dein Geburtstag, Frank das ist der Tag, an dem sie den Dutschke-Attentäter weggesperrt haben." Oppa, weshalb Frank sich daran stört, dass der alte Mann mit der Pfeife im rechten Mundwinkel eben so genannt wird und nicht Großvater, Herr Habel oder Gustav, spricht reines Hochdeutsch, wie es sonst nur in Hannover zu hören ist. 
Aber weil Herne im Pott liegt, sagen die Menschen hier Oppa zu Gustav Habel. 
Frank schreit deswegen nicht auf. Er würde ja höchstens einen roten Kopf bekommen.
Stattdessen spielt er Fangen und Verstecken, wie normale Jungs in seinem Alter das eben so tun.
Er starrt verstohlen durch das Loch in der dünnen Wand der Turnhallenumkleidekabine, das Torsten dort hinein gebohrt hat, hinüber zu den Mädchen.
Auf den Anblick eines Busenansatzes wartet Frank vergeblich und als ihn in einem Spätsommer, gleich nach den großen Ferien, die Rektorin und Sportlehrerin der Gesamtschule an den Ohren aus der Umkleidekabine der Turnhalle zerrt, schreit Frank zwar nicht, beschließt aber den Kopf von nun an besser gesenkt und sich von Torsten fern zu halten. 
Frank bedauert das ein wenig, weil Torsten sein einziger und damit zwangsläufig bester Freund ist, abgesehen von dem altersschwachen Pudel der Familie Habel, den Frank heimlich in seinem Bett schlafen lässt.
Als am 8. Juni 1986 die Polizei den Hamburger Kessel schließt, sitzt Frank am Rhein-Herne-Kanal und hört Sabine, die von allen Sapse gerufen wird, obwohl sie das nicht ausstehen kann, zu, wie sie davon spricht, dass sie eben nicht Sapse gerufen werden will und dass nichts auf der Welt mehr Bedeutung hat als der Respekt für einander.
Frank kann sich nicht daran erinnern, wie er Sabine, die er still und wenn er für sich ist Biene nennt, davon überzeugt hat, mit ihm am Kanal zu sitzen. 
Er mag, wie ihre Stimme klingt und dass sie ihn nicht auf sein ungewaschenes Haar oder sein pusteliges Gesicht anspricht. Und während Sabine von Respekt spricht, fängt es zu regnen an. Frank zieht aus seiner Umhängetasche, für die ihn alle anderen stets verlachen, die er aber praktisch findet, einen Regenschirm und sagt: "Hast du gewusst, dass unsere Vornamen 1969 auf Platz fünf der beliebtesten Vornamen in Deutschland waren?" 
Im selben Moment kommt er sich ganz besonders dumm vor und das bisschen aknefreie Haut gleicht sich dem Rotton der Pusteln an, aber Sabine drückt seine Hand und sagt ganz leise in Richtung des Kanals: "Du bist komisch. Aber süß."
Da weiß Frank, 17-jährig am Kanal sitzend, dass er verliebt ist und Sabine heiraten wird. 
Seine Haut bessert sich je älter er wird und an einem lauwarmen Tag im Frühling, steckt Frank einen Ring in eine Kugel Vanilleeis, weil das Sabines, die er jetzt auch laut Biene nennt, liebstes Eis ist, bevor er sie von Zuhause abholt.
Das Eis ist fast geschmolzen, Sabine steht schon ungeduldig im Vorgarten ihres Elternhauses.
Frank streckt ihr das Eis entgegen, in dem der schmale Ring schwimmt und sagt: "Verschluck dich nicht."
Dann kramt er allen Mut aus der Hemdtasche und fragt: "Willst du mich heiraten?"
Sabine, die sich einen Heiratsantrag vielleicht etwas romantischer oder geplanter vorgestellt hätte, findet ein Picknick am Kanal wäre nett gewesen, gefällt der Ring, der in dem fast geschmolzenen Eis schwimmt. Deshalb sagt sie: "Du bist komisch. Aber süß. Ja." 
Frank wirbelt sie durch den Vorgarten, zertritt aus Versehen und Freude einige gelbe Stiefmütterchen und schreit mit hochrotem Kopf: "Sie hat 'Ja' gesagt." obwohl ihn außer Sabine niemand hören kann.
An diesem Tag, als Sabine "Ja" sagt, ist Frank 21 Jahre alt, bestimmt ihn das Gefühl, er habe sein ganzes Leben noch vor sich und erklärt Estland sich zur Republik.
Frank denkt nicht viel über politische Zusammenhänge oder die Hochzeitsplanung nach. 
Als Sabine ihm die Kosten vorrechnet, mit dem Vermerk, sie habe versucht, es günstig zu halten, schreit Frank nicht, sondern nimmt einen Kredit auf. 
Franks Mutter, die sich nie von ihren unbemerkten wie schweren postnatalen Depressionen erholt hat, zieht sich ihr bestes weißes Kleid an und obwohl weder der alte Pudel der Familie Habel noch Oppa das Fest erleben, wird sich Frank in den kommenden Monaten, wenn er die Raten für den Kredit begleicht gerne an seine Hochzeit erinnern.
Die jungen Eheleute Habel-Tal, denn Sabine besteht entschieden auf einen Doppelnamen, der Gleichberechtigung und des Respekts wegen, ziehen in ein schmuckes Reihenhaus, das genug Platz für ein Kinderzimmer hat.
Während der Osten und der Westen Deutschlands versuchen zueinander zu finden, beginnt Frank seinen Beruf zu hassen, der ihm zwar gutes Geld einbringt und die Raten zahlt, bei dem ihm aber jede Anerkennung verwehrt bleibt.
Als im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen Asylbewerberheime brennen, klatscht Frank innerlich Beifall. 
Er ist seit zwei Jahren verheiratet, trägt das Haar noch immer ungewaschen und Sabine weigert sich hartnäckig schwanger zu werden. 
Anstatt abends in das gepflegte Reihenhaus zurückzukehren macht Frank häufiger Umwege über die nächstgelegene Kneipe. Ein Bier und ein Schnaps schaden nicht, denkt er sich.
Betritt er mit auf Stunden ausgedehnte Verspätung die Diele des dunklen Hauses, schaltet Sabine im Schlafzimmer das Licht an und sagt durch eine geschlossene Tür: "Wenn du wieder saufen warst, kannst du gleich draußen bleiben."
Frank verstaut die Wut über die Ungerechtigkeit in der Hemdtasche, legt sich auf die unbequeme Ledercouch, deckt sich mit einer kratzigen Wolldecke zu und verflucht den Tag am Kanal, als Sabine seine Hand drückte.
Sie findet ihn, das weiß er genau, inzwischen längst nicht mehr süß. 
Als am 9. September 2001 Flugzeuge in das World Trade Center fliegen, sagt der dicke Geschäftsführer:
"Herr Habel, Sie sind zwar schon lange ein Teil unseres Unternehmens und es tut mir wirklich leid, glauben Sie mir, aber Sie sind nicht mehr tragbar." 
Vor Anstrengung das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, gerät Frank heftig ins Schwitzen. 
Er steht auf der Straße mit seinen 32 Lebensjahren, deren Bilanz eine Kündigung und eine zerrüttet Ehe nebst Säuferleber sind.
Die Schuld daran, das weiß Frank ganz genau, trägt irgendjemand, nur nicht er.
Er hat stets den Kopf gesenkt, seine Steuern stets pünktlich bezahlt und dennoch will ihm das Leben nichts gönnen.
Ein paar Stunden trottet er durch die Straßen, bis er nach Hause geht. 
Sabine sitzt in der Küche und raucht. Vor Jahren hat er sie gebeten, das Rauchen aufzugeben oder wenigstens nicht im Haus eine Zigarette nach der anderen anzustecken. Sabine, die Respekt so viel Bedeutung beimisst, hat ihn jedoch schlicht überhört.
Er betritt die Diele, seine Nase saugt den unangenehm beißenden Qualm ein.
"Mir wurde gekündigt." sagt Frank tonlos, in der Erwartung, sie käme aus der Küche gelaufen, nähme ihn in die Arme oder drückte wenigstens seine Hand.
Stattdessen raucht Sabine und sagt: "Ich verlasse dich."
Die Koffer stehen bereits gepackt im hinteren Teil der Diele, das sieht Frank jetzt.
Sabine lässt nichts weiter zurück als einige abgenutzte Möbel und einen Scherbenhaufen Erinnerungen, die Frank gerne genauso abstreifen würde wie den Doppelnamen.
Da sich Erinnerungen nicht abstreifen lassen, ertränkt Frank sie in weniger Bier und mehr Schnaps. 
Die Tage kriechen dahin und werden zu Jahren. Frank bezieht staatliche Hilfen, die ihm kaum ausreichen, um den gewohnten Lebensstandard zu halten.
Sein ungewaschenes Haar beginnt grau zu werden, als am 20. Oktober 2014 zum ersten Mal Pegida durch Dresden marschiert.
So wie schon Jahre zuvor als in Rostock-Lichtenhagen Häuser brannten, applaudiert Frank diesem Bachmann innerlich. 
Er entdeckt das Internet für sich und hebt den müden Blick. Endlich hat er einen Schuldigen gefunden.
Sabine ist inzwischen glückliche Mutter zweier Kinder, deren Vater aus Ghana stammt.

Frank schleicht manchmal um das Haus, in dem sie leben, späht durch die halb geöffneten Vorhänge und stellt sich vor, wie Sabine die Hand des Mannes drückt, während sie sagt: "Du bist komisch. Aber süß."
Und obwohl im das Brüllen nichts eingebracht hat als eine "Auszeit" im Keller oder einen roten Kopf, beginnt Frank zu schreien. Er schreit ungehemmt in die Welt.
Jeden Tag steht er pünktlich um 8 Uhr 45 auf, schaltet seinen Computer an und kommentiert, teilt, bloggt noch vor dem ersten Kaffee hasserfüllt und hingebungsvoll.
Frank hat neun verschiedene Online-Profile, unterhält zwei eigene Blogs und weiß sich in den sozialen Netzwerken zu bewegen.
Sein Arbeitstag dauert bis 16 Uhr 30, inklusive einer Mittagspause von einer halben Stunde.
Als am 14. März 2016 Pegida der AFD zu ihrem Wahlsieg gratuliert, marschiert Frank selig in der Mitte der Patrioten. Er ist 47 Jahre alt und hat endlich das Gefühl, angekommen zu sein.



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