Dienstag, 12. Juli 2016

Der Holztisch

Albert sitzt an einem Tisch, der ihm ebenso wenig gefällt wie sein Name. 
Seit 53 Jahren und 11 Monaten leidet Albert. Nicht an dem Tisch, welcher nicht länger als 2 Jahre und 4 Wochen in der viel zu kleinen Küche Platz gefunden hat. Die Küche ist schlauchförmig. Daher passt ein runder Tisch, selbst ein hölzerner, nicht hinein. Sondern unter seinem Namen. Albert. Als sei er albern. Er ist ein äußerst ernsthafter Mensch. 
Da seinen Eltern darauf bestanden, dass er den Familienbetrieb übernähme, eine Metzgerei, die Metzgerei Altmann, musste er zwar auf das Universitätsstudium verzichten, bildet sich jedoch fleißig fort. Zumindest liest er regelmäßig, nämlich wöchentlich, eine Zeitung. Albert Altmann findet es unnötig, die Tageszeitungen zu bemühen, wenn es doch Wochenzeitungen gibt. Information überlebt sich nicht und die Gesellschaft wandelt sich derart langsam, dass es auf das Tagesgeschehen wahrlich nicht ankommt. 
So sieht Albert Altmann die Welt von seinem ungeliebten Tisch aus. 
An diesem Morgen, da er in der Küche sitzt, die Wochenzeitung noch unberührt neben seinem Teller liegt, köpft Albert Altmann sein Frühstücksei. 
Er köpft seine Frühstückseier stets. Es seien schließlich Eier und keine Trommeln, weswegen nicht einzusehen sei, die Schale mit dem Löffel anzuschlagen, pflegt er zu sagen und fügt beiläufig hinzu, außerdem sei es nur recht und billig, was ein Tier hätte werden können auch zu köpfen, wollte man es verzehren.
Albert Altmann fügt gerne beiläufig Nachsätze hinzu, die seine Zuhörerschaft angemessen schockiert zurücklassen. Das liegt daran, dass er sich mit aller Macht gegen die Albernheit seines Namens zu wehren versucht. Dass sein Name im Gegenteil die Bedeutung "vornehm" oder auch "glänzend" hat, ist ihm, dem ernsthaften Herrn Altmann, bisher entgangen. Zu beschäftigt ist er, die Wochenzeitung zu lesen. Und schließlich wurde ihm das höhere Studium verwehrt.
An diesem Morgen, den seine Frau als warm beschreibt, köpft Albert Altmann sein Frühstücksei und verdreht die Augen.
"Isabelle", sagt er, während er mitleidig den Kopf schüttelt, "wie sollte ein Morgen im August denn auch nicht warm sein? Der August ist ein Sommermonat. Da sind die Morgende und Abende warm. Am Nachmittag wird es sogar heiß werden. Es ist eben August." 
Albert seufzt tief, rückt das schmale Brillengestell, welches nicht zu seinem grobschlächtigen Gesicht passen möchte, zurecht und greift nach der Wochenzeitung.
Auf dem Tischtuch versammeln sich Brotkrümel.
Alberts Gesichtszüge waren früher genauso wenig grobschlächtig wie sein Wesen.
Der junge Albert Altmann trug Fliege und lud Isabelle zu Tanzveranstaltungen ein. Blickt sie auf die Fotografien, erfasst sie für gewöhnlich eine durchdringende Wehmut. Das Gewöhnliche steht ihr und so lässt sie es bei einem kurzen Moment bewenden. Heute, an diesem warmen Morgen im August, einem Sommermonat, liegen nicht nur ihre sonst sorgsam zu einem Knoten geschlungen Haare glatt über den Schultern, sondern die Dinge anders.
Isabelle ist bereit einen Versuch, von dem sie weiß, es wird der letzte sein, zu unternehmen.
"Albert", sagt sie fast ein wenig zu leise, als hoffe sie doch, er möge sie nicht hören, "ich unternehme eine Reise."
Die Wochenzeitung in den inzwischen druckergeschwärzten Metzgershänden knistert.
Albert Altmann hebt langsam den Kopf, betrachtet seine Frau ausführlich über den Rand seiner Brille.
Seine Antwort ist kurz, ein Widerspruch undenkbar. Isabelle widerspricht ihm seit 34 Jahren und 1 Woche nicht. 
"Nein."
Durch das Küchenfenster weht ein vorwitziger Sommerwind herein. Die versammelten Krümel tanzen auf dem Tischtuch.
Albert verabscheut den hölzernen Tisch so sehr, dass er auf einem Tischtuch besteht. 
Das Tuch hat weiß und gebügelt zu sein.
Firlefanz wie einen Spitzenbesatz verbittet er sich.
Seine Frau wankt nicht. Lange hat sie über diesen Schritt, der ihr als einziger möglich scheint, nachgedacht. 
"Ich unternehme eine Reise." sagt Isabelle und fügt, ganz nach Alberts Manier beiläufig hinzu "wie lange ich fort sein werde, weiß ich nicht."
Albert Altmanns Gesicht wechselt die Farbe. Feine Adern auf den Wangen röten die Haut zwischen den großen Poren. Die Wochenzeitung fällt zu Boden. 
Ungläubig blickt er seine Frau an, wie sie dort steht, die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre ihr kühl. 
"Du kannst keine Reise unternehmen. Wo willst du denn auch hin?" stößt Albert durch gefletschte Zähne hervor. 
Die Küchenuhr schlägt einen ungewohnten Rhythmus, während Isabelle das Geschirr zur Spüle trägt. 
In ihrem Rücken spürt sie die massige Gestalt ihres Mannes. 
"Zunächst fahre ich aus der Stadt. Das halte ich für einen guten Anfang. Jede Reise beginnt mit einem Anfang. Das Ziel dagegen steht noch nicht fest."
Die Worte fallen langsam in den Siphon. Auf Albert Altmanns rechter Wange, knapp unter dem Auge, platzt unauffällig eine Ader. 
"Ausgeschlossen." sagt er, lehnt den Oberkörper an der Rundung des Tisches vorbei nach vorne und hebt die Wochenzeitung vom Boden auf. 
"Absolut ausgeschlossen." 
Im Takt der Küchenuhr vollführt Isabelle eine bedächtige Drehung, der es unter anderen Umständen nicht an Eleganz gefehlt hätte.
Ihren Blick heftet sie auf die Schlagzeilen des Feuilleton. 
"Ich unternehme eine Reise. Auf unbestimmte Zeit. Denn, Albert, du bist mir, was dieser hölzerne Tisch dir ist. Nur kann ich dich nicht mit einem weißen und gebügelten Tuch verdecken." sagt Isabelle mit einer für sie ungewöhnlichen Gelassenheit.
Dann geht sie und lässt einen angemessen schockierten Albert Altmann an seinem ungeliebten Tisch zurück.



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