Sonntag, 4. März 2018

Carlotta

Sie trägt einen Bassschlüssel hinter dem linken Ohr, der nur dann sichtbar wird, wenn sie die Haare zu einem Zopf bindet oder sich auf den Kopf stellt. Dann aber ist es weniger ein Bassschlüssel als mehr ein Paddel. 
"Die Welt ist ein Boot." sagt Carlotta. "Es ist immer gut, ein Paddel dabei zu haben."

Carlotta wäre gerne in einer Kleinstadt aufgewachsen und nicht zwischen den Betonschluchten, in denen der Wind so vorwitzig an Röcken und Mänteln zieht, die einer Großstadt ein beliebiges Gesicht geben.
"Es ist eben ein Hochhaus. Kein Plattenbau. Nur hoch." sagt Carlotta und nickt einem Mann, ausstaffiert mit Sandalen, aber sockenlos, über die Straße hinweg zu.
"Das ist Ede. Der wohnt hier schon mein ganzes Leben lang. Vielleicht sogar länger." sagt Carlotta und Ede hebt die Hand, indem er den Ellenbogen anwinkelt. 

Carlotta dreht sich ihre Zigaretten selbst. Dabei sitzt sie im Schneidersitz auf dem Vorsprung einer Mauer, balanciert auf ihren Beinen ein Buch.
"Ich habe immer mindestens ein Buch dabei. Manchmal sogar einen Roman." sagt Carlotta. 

"Wenn ich verstecken spielen möchte oder eben gerade nicht auf dem Kopf stehen kann, dann ist so ein Roman genau das Richtige." sagt Carlotta.

Das erste Mal versteckt Carlotta sich, als sie gerade Buchstaben zu Worten verbinden kann. Aus dem Wohnzimmer dringt Lärm. Gläser gehen zu Bruch. Die Stimme ihrer Mutter überschlägt sich. Nachbarn klopfen mit dem Besen gegen die Decke. 

Carlotta flieht nach Nimmerland und sieht am folgenden Morgen einem Polizeibeamten in die Augen. 
"Es gibt ja immer einen Morgen." sagt Carlotta. 
Ihre Mutter sitzt verkatert und heiser zwischen abgewetzten Kissen. Auf dem Boden liegen Scherben. 
"Hotte ist dann ausgezogen." sagt Carlotta und zuckt mit den Schultern. 

Als sie eingeschult wird, schlägt ihr ein Junge, der später in einem Gleisbett gefunden werden wird, weil ihn ein herannahender Zug erfasste, die Brille von der Nase. 
Der Junge hat Sommersprossen und grüne Augen. 
"Wie er hieß, weiß ich nicht mehr." sagt Carlotta und streicht über die Seiten der Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges.
Der Junge wurde gerügt und stellt drei Tage später einem anderen Kind ein Bein.

"Kontaktlinsen stehen mir nicht." sagt Carlotta und schiebt ihre Brille den Nasenrücken hinauf. Sie sitzt unmerklich schief, weil Carlotta häufig beim Lesen einschläft. Dann hinterlässt der Bügel auf der linken Seite ihres Kopfes einen Abdruck, verbiegt sich an der Form ihrer Knochen. 
"Außerdem kann ich so über den Rand hinaus sehen." sagt Carlotta, als wäre das selbstverständlich.

Das erste Mal über den Rand gesehen hat Carlotta in der fünften Klasse, als drei Mitschüler drohten sie über die Brüstung im 3. Stock des Schulgebäudes hinab fallen zu lassen. 
Carlotta blieb stumm, die beiden Jungen und das Mädchen, deren Namen Carlotta sich weigerte dem Direktor zu nennen, kamen davon. 

"Verrat liegt mir nicht." sagt Carlotta. Sie hat gelernt zu dulden. 

Als sie Max trifft, ist einer ihrer Kniestrümpfe herunter gerutscht. 
Max, der es nicht leiden kann, wird er "Mäxchen" gerufen, fragt sie:
"Bist du glücklich?" 

Sie stehen auf einem Stück Gehweg zwischen den hohen Häusern und dem bisschen Leben in einer fast vergessenen Siedlung am Rande der Stadt.
Carlotta zieht die Nase kraus. 
"Zufrieden bin ich." sagt sie. "Zufriedenheit ist das größte Glück." 
Max lacht und stört sich nicht daran, dass sie ihn Mäxchen ruft.

Das erste Mal verirrt sich seine Faust in ihre Magengrube, als sie sich ein Jahr später um eine halbe Stunde verspätet.
Eis essen hatten sie gehen wollen. Mäxchen betrat die Eisdiele zu früh, bestellte für sie beide. 
Das Eis schmolz unter der wachsenden Hitze seines Zorns.
Carlotta flieht in das Florenz der Familie Medici. 
Sie nennt ihn nicht mehr Mäxchen und verlässt ihn fünf gebrochene Rippen später.

"Es ist nicht einfach, sich aus dem Weg zu gehen. Die Siedlung ist kleiner als ein Dorf." sagt Carlotta und wischt die Tabakkrümel von ihren Beinen.

Im Kellerabteil stapeln sich Kisten. Einmal in der Woche sitzt Carlotta auf einer säuberlich zum Quadrat gefalteten Decke zwischen den Kisten. 
Zweieinhalb Stunden sitzt sie dort, studiert die Seiten des Inhaltsverzeichnisses, atmet den Staub voriger Generationen. Das Kellerabteil ist ein Ort der stillen Sicherheit. 
"Zu viel Sicherheit ist trügerisch." sagt Carlotta und verschließt die Tür mit der gebotenen Sorgfalt.

Zwischen dem Alltag und den Büchern schleicht sich der Sommer aus der Siedlung. Es regnet als Ede einen Herzinfarkt erleidet. Carlotta weint und legt ihm ein Paar Socken auf den Grabstein.
"Manche Geschichten enden traurig." sagt Carlotta und deckt sich mit Andersens Märchen zu.

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